Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer. Effektivitätsgrundsatz. Zu hoher Mehrwertsteuersatz auf einer Kaufrechnung. Rückzahlung des zu viel gezahlten Betrags. Unmittelbare Klage gegen die Verwaltung. Auswirkung der Gefahr einer doppelten Erstattung derselben Mehrwertsteuer

 

Normenkette

EGRL 112/2006

 

Beteiligte

Schütte

Michael Schütte

Finanzamt Brilon

 

Verfahrensgang

FG Münster (Beschluss vom 27.06.2022; Aktenzeichen 15 K 2327/20 AO; EFG 2022, 1577)

 

Tenor

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz

sind dahin auszulegen, dass

sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen. Wird die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, ist der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass der Betrag, der dieser zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer entspricht, nicht verfügbar ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Münster (Deutschland) mit Beschluss vom 27. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2022, in dem Verfahren

Michael Schütte

gegen

Finanzamt Brilon

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters N. Piçarra,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Michael Schütte, vertreten durch Rechtsanwalt H. Nieskens,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und N. Scheffel als Bevollmächtigte,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und L. Mantl als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer und des Effektivitätsgrundsatzes.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens, Herrn Michael Schütte, und dem Finanzamt Brilon (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) wegen des Anspruchs auf einen aus Billigkeitsgründen zu gewährenden Erlass der von den deutschen Finanzbehörden nachträglich geforderten Mehrwertsteuer und der darauf festgesetzten Zinsen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden”.

Rz. 4

Gemäß Art. 178 Buchst. a dieser Richtlinie muss der Steuerpflichtige, um das Recht auf Vorsteuerabzug nach ihrem Art. 168 Buchst. a ausüben zu können, „in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen … eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen”.

Deutsches Recht

Rz. 5

In § 163 der Abgabenordnung (BGBl. 2002 I, S. 3866) (im Folgenden: AO) heißt es:

„(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer u...

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