Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiskraft der Beurkundung einer Ersatzzustellung und deren Entkräftung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Im Strafbefehlsverfahren ist zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die Zustellung des Strafbefehls vorgesehen. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, daß die Zustellung auch im Wege der Ersatzzustellung durch Niederlegung erfolgen kann. Die Rechtsverteidigung wird durch diese Art der Zustellung nicht in verfassungswidriger Weise beschränkt, zumal Wirksamkeitsvoraussetzung der Ersatzzustellung ist, daß der Zustellungsadressat unter der Zustellungsanschrift tatsächlich wohnt.

2. Für das Gericht erwächst bei Übersendung eines Schriftstücks aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht, sich über dessen Zugang zu vergewissern. Im allgemeinen darf es sich dabei auf den Nachweis der förmlichen Zustellung verlassen, denn die gem. §§ 190 ff. ZPO aufgenommene Zustellungsurkunde begründet nach § 418 ZPO den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen. Aufgrund der Beurkundung der Ersatzzustellung kann das Gericht im Regelfall solange davon ausgehen, daß der Zustellungsempfänger unter der Zustellungsanschrift wohnt, als dieser die Indizwirkung nicht durch eine plausible und schlüssige Darstellung entkräftet. Dazu genügt nicht die schlichte Behauptung, dort nicht zu wohnen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; StPO § 35 Abs. 2 S. 1, § 37 Abs. 1 S. 1; ZPO §§ 182, 190, 418 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Hamburg (Beschluss vom 17.08.1995; Aktenzeichen 615 Qs 48/95)

AG Hamburg-Altona (Beschluss vom 22.06.1995; Aktenzeichen 327a-447/94)

 

Gründe

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen strafgerichtliche Beschlüsse, mit denen ihr, ausgehend von der Wirksamkeit einer an sie bewirkten Ersatzzustellung, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt wurde.

I.

Gegen die Beschwerdeführerin erging am 1. September 1994 ein Strafbefehl wegen eines Verstoßes gegen § 326 StGB, der am 9. September 1994 durch Niederlegung zugestellt wurde. Mit einem am 11. Januar 1995 eingegangenen Schreiben ihres Verteidigers legte sie Einspruch ein mit der Behauptung, die Zustellung sei unwirksam, da sie unter der Zustellungsanschrift seit dem 24. Februar 1994 nicht mehr gewohnt habe; sie beantragte zugleich unter Vorlage einer eigenen eidesstattlichen Versicherung und einer Meldebestätigung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Durch den angegriffenen Beschluß des Amtsgerichts vom 22. Juni 1995 – 327a-447/94 – wurden Einspruch und Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig verworfen, da es an der gemäß § 45 Abs. 2 StPO erforderlichen Glaubhaftmachung bezüglich aller Tatsachen, die für die Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit des Wiedereinsetzungsantrags von Bedeutung seien, fehle. Insbesondere der Vortrag zum Wegfall des Hindernisses (vgl. § 45 Abs. 1 StPO) sei nicht glaubhaft gemacht. Der Strafbefehl sei auch wirksam zugestellt. Hierfür sei nicht die polizeiliche Anmeldung maßgebend, sondern die Anschrift der Räumlichkeit, die der Adressat zur Zeit der Zustellung tatsächlich für eine gewisse Dauer zum Wohnen benutze. Insoweit bildeten die Angaben in der Postzustellungsurkunde ein Indiz, das nur dadurch entkräftet werden könne, daß objektive Umstände oder der Vortrag des Zustellungsempfängers hinreichende Zweifel begründeten. Die Beschwerdeführerin habe dieses Indiz nicht durch eine plausible und schlüssige Darstellung entkräftet. Sie habe nicht hinreichend dargelegt, daß sie ihre bisherige Wohnung aufgegeben und an einem anderen Ort ihren Lebensmittelpunkt begründet habe. Hierzu reichten ihre eigene eidesstattliche Versicherung und die Kopie der Meldebestätigung nicht aus. Aus dieser Kopie gehe lediglich hervor, daß sie seit Ende Februar 1994 ihre Hauptwohnung unter einer anderen Anschrift habe. Es sei ihr hingegen nicht zu entnehmen, daß dies die alleinige Wohnung gewesen sei, dies sei in dem Anmeldeformular nicht ausgefüllt worden. Eine Räumlichkeit verliere nicht schon dadurch ihre Eigenschaft als Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschriften, daß der Adressat auch an anderer Stelle eine Wohnung innehabe. Maßgeblich sei vielmehr, inwiefern diese Räumlichkeit weiter regelmäßig aufgesucht werde, so daß objektiv zu erwarten sei, daß die Benachrichtigung vorgefunden werde. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, daß ein Schreiben der Polizei vom 1. März 1994 die Beschwerdeführerin unter der Zustellungsanschrift noch erreicht haben müsse.

Mit der sofortigen Beschwerde legte die Beschwerdeführerin zur Glaubhaftmachung eidesstattliche Versicherungen des Nachmieters der Wohnung, in der sie zum Zustellungszeitpunkt gewohnt haben soll, sowie einer weiteren Person vor. Durch den ebenfalls angegriffenen Beschluß des Landgerichts vom 17. August 1995 – 615 Qs 48/95 – wurde die sofortige Beschwerde verworfen und zur Begründung ausgeführt, die Zustellungsurkunde genieße die Beweiskraft des § 418 Abs. 1 ZPO, die nur durch Erbringung des Gegenbeweises entkräftet werden könne. Dieser sei nicht erbracht, da ungeachtet der eingereichten Unterlagen Zweifel verblieben. So habe die Beschwerdeführerin sich unter der neuen Anschrift nur mit dem Hauptwohnsitz angemeldet und ihren Namenszug auf dem Hausbriefkasten der ehemaligen Wohnung nicht überklebt. Auch habe noch nach Zustellung des Strafbefehls Post für sie unter der alten Adresse zugestellt werden können. Hinsichtlich des Wiedereinsetzungsantrags werde auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

II.

Mit der rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde wird die Verletzung der Art. 2, 3 und 103 Abs. 1 GG gerügt. Das Landgericht habe das neue Vorbringen in der Beschwerdebegründung und die mit dieser vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen nicht zur Kenntnis genommen. Die Entscheidungen des Amts- und Landgerichts verletzten auch das Willkürverbot, weil Beweismittel für den Gegenbeweis benannt worden seien, so daß ohne Ausschöpfung dieser Beweismittel die Feststellung, der Gegenbeweis sei nicht erbracht, nicht möglich gewesen sei.

III.

Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg hat lediglich zu den verfassungsrechtlichen Angriffen gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Stellung genommen. Dieses habe die Anforderungen an den Gegenbeweis nach § 418 Abs. 2 ZPO nicht überdehnt. Die Beschwerdeführerin habe im amtsgerichtlichen Verfahren keine Umstände vorgebracht, die die Indizkraft der Postzustellungsurkunde entkräftet hätten.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit sie sich gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts richtet, die den Einspruch gegen den Strafbefehl betrifft; dies ist zur Durchsetzung des in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Soweit sie sich gegen den Beschluß des Amtsgerichts und gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts richtet, die die Ablehnung der Gewährung von Wiedereinsetzung bestätigt, wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen; insoweit liegen die Annahmevoraussetzungen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) nicht vor.

1. Soweit die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des Landgerichts angenommen ist, ist sie offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verwerfung der sofortigen Beschwerde gegen die den Einspruch verwerfende Entscheidung des Amtsgerichts verletzt Art. 103 Abs. 1 GG.

a) Die Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs ist den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen (vgl. BVerfGE 9, 89 ≪95≫; 67, 208 ≪211≫; 69, 145 ≪148≫; 74, 1 ≪5≫). Im Strafbefehlsverfahren ist zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die Zustellung des Strafbefehls vorgesehen (§ 35 Abs. 2 Satz 1 StPO; vgl. auch §§ 409 Abs. 1 Nr. 7, 410 Abs. 1 Satz 1 StPO). Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, daß die Zustellung auch im Wege der Ersatzzustellung durch Niederlegung erfolgen kann (§ 37 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 182 ZPO). Die Rechtsverteidigung wird durch diese Art der Zustellung nicht in verfassungswidriger Weise beschränkt, denn Wirksamkeitsvoraussetzung der Ersatzzustellung ist, daß der Zustellungsadressat unter der Zustellungsanschrift tatsächlich wohnt (Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juni 1991 – 2 BvR 511/89 –, NJW 1992, S. 224 ≪225≫; vgl. auch BVerfGE 67, 208 ≪211≫ und BGH, NJW 1978, S. 1858).

Für das Gericht erwächst aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht, vor Erlaß einer Entscheidung zu prüfen, ob rechtliches Gehör gewährt wurde. Setzt dies die Übersendung eines Schriftstücks voraus, muß sich das Gericht über dessen Zugang vergewissern. Dabei darf es sich im allgemeinen auf den Nachweis der förmlichen Zustellung verlassen (vgl. BVerfGE 36, 85 ≪88≫), denn die gemäß den §§ 190 ff. ZPO aufgenommene Zustellungsurkunde begründet nach § 418 ZPO den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen. Danach erstreckt sich die Beweiskraft der Zustellungsurkunde allerdings nicht auch darauf, daß der Zustellungsadressat unter der Zustellungsanschrift tatsächlich wohnt. Die tatsächlichen Voraussetzungen der Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschriften sind von dem Zusteller regelmäßig nicht voll zu überprüfen, so daß seine Erklärung, er habe eine Nachricht über die Niederlegung unter der Anschrift des Empfängers abgegeben, nur ein beweiskräftiges Indiz dafür begründet, daß der Zustellungsempfänger unter der Zustellungsanschrift wohnt. Dementsprechend kann das Gericht aufgrund der Beurkundung der Ersatzzustellung im Regelfall solange davon ausgehen, daß der Zustellungsempfänger dort wohnt, als dieser die Indizwirkung nicht durch eine plausible und schlüssige Darstellung entkräftet, wozu die schlichte Behauptung, unter der Zustellungsanschrift nicht zu wohnen, noch nicht genügt (Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juni 1991 – 2 BvR 511/89 –, NJW 1992, S. 224 ≪225 f.≫).

b) Diesem Maßstab wird zwar der Beschluß des Amtsgerichts, nicht aber auch der des Landgerichts gerecht. Das Landgericht mißt der Zustellungsurkunde über die Niederlegung auch hinsichtlich der Wohnung des Adressaten die Beweiskraft des § 418 Abs. 1 ZPO zu. Es verlangt daher den vollen Gegenbeweis, der hier nicht erbracht sei, weil letzte Zweifel verblieben seien. Das Landgericht verkennt damit, daß die Indizwirkung der Postzustellungsurkunde zur Anschrift des Adressaten schon durch eine substantiierte, plausible und schlüssige Darstellung entkräftet werden konnte. Ob der Zustellungsempfänger tatsächlich unter der Zustellungsanschrift wohnte, hatte das Gericht unter Ausschöpfung aller ihm zugänglichen Informationen selbst aufzuklären (Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juni 1991 – 2 BvR 511/89 –, NJW 1992, S. 224 ≪226≫). Das Landgericht hatte daher dem durch eidesstattliche Versicherungen Dritter ergänzten Beschwerdevorbringen näher nachzugehen und zu prüfen, ob dieses geeignet war, die Indizkraft der Zustellungsurkunde auszuräumen. Hätte es sich dabei ergeben, daß die Beschwerdeführerin substantiiert unter Beweis gestellt hat, unter der Zustellanschrift nicht gewohnt zu haben, so genügten bloße Zweifel des Gerichts an der Richtigkeit dieser Darlegung nicht zur Annahme einer wirksamen Zustellung.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf diesem Verstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht eine andere Entscheidung getroffen hätte, wenn es berücksichtigt hätte, daß den Angaben zur Wohnung in der Postzustellungsurkunde lediglich Indizwirkung zukommt.

Im Umfang der Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung war daher der angegriffene Beschluß des Landgerichts gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht Hamburg zurückzuverweisen.

3. Der Beschwerdeführerin sind gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG ihre notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1518602

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