Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, ob ein Zustellungsempfänger auch während einer durch Strafverbüßung bedingten knapp zweimonatigen Abwesenheit in den bisher bewohnten Räumen eine "Wohnung" im Sinne der Zustellungsvorschriften beibehält.

 

Verfahrensgang

OLG Karlsruhe (Entscheidung vom 18.11.1975)

LG Mannheim

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 18. November 1975 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger verlangt von dem Beklagten Rückzahlung eines Betrages von insgesamt 9.040 DM, mit der Behauptung, er habe dem Beklagten Darlehen in dieser Höhe gewährt, 4.000 DM in Form von drei Schecks und weitere 5.040 DM durch Sachzuwendungen. Wegen dieser Forderung hat er am 14. Februar 1974 bei dem Landgericht Mannheim ein Versäumnisurteil erwirkt. Der Beklagte hat dagegen mit Schreiben vom 18. März 1974 Einspruch eingelegt. Durch richterliche Verfügung vom 22. März 1974 wurde er darauf hingewiesen, daß er den Einspruch nur durch einen beim Landgericht Mannheim zugelassenen Rechtsanwalt binnen 14 Tagen seit Zustellung des Versäumnisurteils einlegen könne.

Am 29. März 1974 trat der in W./Ruhr wohnhafte Beklagte eine bis zum 27. Mai 1974 dauernde Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt A. an. Zuvor hatte er eine im selben Haus wie er wohnende Frau S. beauftragt, sich nach der Zustellung des Versäumnisurteils wegen des Einspruchs mit Rechtsanwalt Dr. So. in Hagen in Verbindung zu setzen. Das Versäumnisurteil wurde dem Beklagten am 24. April 1974 unter seiner Anschrift in W./Ruhr durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt; Frau S. versuchte vergeblich, es in Empfang zu nehmen. Sie veranlaßte daraufhin den Beklagten, einen Antrag auf Nachsendung in die Justizvollzugsanstalt zu stellen, wo es am 9. oder 10. Mai 1974 einging. Am 20. Mai 1974 legte der Beklagte durch einen beim Landgericht Mannheim zugelassenen Rechtsanwalt gegen das Versäumnisurteil Einspruch ein und beantragte zugleich, ihm wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Das Landgericht hat das Versäumnisurteil aufgehoben und die Klage aus sachlichen Gründen abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat in Abänderung des landgerichtlichen Urteils den Einspruch als unzulässig verworfen und das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewiesen.

Mit der zugelassenen Revision begehrt der Beklagte Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils und wiederholt vorsorglich das Wiedereinsetzungsgesuch.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

1.

Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Das Versäumnisurteil habe dem Beklagten in dessen Wohnung in W./Ruhr wirksam durch Niederlegung nach § 182 ZPO zugestellt werden können; denn der Beklagte habe dort auch während seiner durch die Strafverbüßung bedingten knapp zweimonatigen Abwesenheit gewohnt.

2.

Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision haben im Ergebnis Erfolg.

a)

Bei der Auslegung des Begriffs "Wohnung" im Sinne der §§ 181, 182 ZPO ist von Sinn und Zweck dieser Zustellungsvorschriften auszugehen.

Zustellung ist der in gesetzlicher Form zu bewirkende und zu beurkundende Akt, durch den dem Adressaten Gelegenheit zur Kenntnisnahme eines Schriftstücks verschafft wird (Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht 12. Aufl. § 73 I 1; vgl. auch RGZ 124, 22 ff). Zustellungen geschehen nicht nur im Interesse ihres Veranlassers, der mit Hilfe der Zustellungsurkunde nachweisen kann (§§ 190, 191 ZPO), daß der Adressat von dem zugestellten Schriftstück Kenntnis nehmen konnte, sondern auch im Interesse des Adressaten. Ihm gegenüber sollen die Vorschriften über Zustellungen gewährleisten, daß er Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann. Die Vorschriften über die Zustellungen dienen damit auch der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG; Senatsurteil in BGHZ 12, 96, 98; Maunz/Dürig GrundG Art. 103 Rdn. 80 m.w.Nachw.; Otto, DGVZ 1963, 177, 178).

b)

Die Vorschriften der §§ 181, 182 ZPO regeln die Fälle, in denen bei der Zustellung der Empfänger selbst nicht angetroffen wird. Sie bestimmen, daß dem Empfänger auch bei Abwesenheit grundsätzlich in seiner Wohnung zugestellt werden kann, und zwar entweder im Wege der Ersatzzustellung an einen Hausgenossen oder an den Hauswirt (§ 181 ZPO), oder - falls auch das nicht möglich ist - durch Niederlegung bei der Postanstalt (oder dem Amtsgericht, dem Gemeindevorsteher, dem Polizeivorsteher), wobei unter der Anschrift des Empfängers eine Benachrichtigung über die Niederlegung hinterlassen werden muß (§ 182 ZPO). Diese gesetzliche Regelung beruht auf der Erwägung, daß die Wohnung der Ort ist, wo am ehesten damit gerechnet werden kann, daß das zuzustellende Schriftstück den Empfänger erreicht. Damit wird zugleich auch dem Interesse des Zustellenden an einem einfachen Zustellungsverfahren Rechnung getragen. Denn es ist nach diesen Vorschriften für die Wirksamkeit der Zustellung nicht erforderlich, daß das zuzustellende Schriftstück dem Empfänger selbst ausgehändigt wird. Vielmehr reicht der geringere Grad an Wahrscheinlichkeit aus, daß dem Empfänger (eine geeignete) Gelegenheit zur Kenntnisnahme verschafft worden ist.

c)

Dementsprechend kommt es für den Begriff der "Wohnung" im Sinne der §§ 181, 182 ZPO auf das tatsächliche Wohnen an, nämlich darauf ob der Zustellungsempfänger hauptsächlich in den Räumen lebt und insbesondere ob er dort schläft (BGH LM BGB § 328 Nr. 15, Otto a.a.O. jeweils m.w.Nachw.). Unwesentlich ist dagegen, ob sich in dieser Räumlichkeit auch der Wohnsitz des Adressaten im Sinne des § 7 BGB befindet oder ob der Adressat in dieser Wohnung polizeilich gemeldet ist (BayObLG JR 1961, 271).

Hat der Zustellungsempfänger Räume in dieser Weise benutzt, so hebt nicht jede vorübergehende Abwesenheit, selbst wenn sie länger dauert, die Eigenschaft jener Räume als einer Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschriften auf. Diese Eigenschaft geht vielmehr erst verloren, wenn sich während der Abwesenheit des Zustellungsempfängers auch der räumliche Mittelpunkt seines Lebens an den neuen Aufenthaltsort verlagert. Ob das der Fall ist, läßt sich, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen (BayObLG a.a.O.; ferner Stein/Jonas/Pohle ZPO 19. Aufl. 1972 Anm. II 1 zu § 181 ZPO), wobei der Zweck der Zustellungsvorschriften, dem Empfänger das rechtliche Gehör zu gewähren, zu berücksichtigen ist. Geeignete Gesichtspunkte für diese Prüfung können die Dauer der Abwesenheit, der Kontakt zu den in der Wohnung Verbliebenen, die Absicht und die Möglichkeit der Rückkehr sein. Dagegen kommt es nicht entscheidend darauf an, ob sich der Abwesende polizeilich abgemeldet oder ob er etwa noch persönliche Habe an dem früheren Aufenthaltsort zurückgelassen hat.

d)

Für den vorliegenden Fall gilt folgendes: Der Beklagte hatte während der gesamten Dauer seiner Strafverbüßung keine Möglichkeit, seine bisherige Wohnung als Aufenthaltsort und tatsächliche Wohnstätte zu nutzen. Allerdings war dieser Zustand - wie bei jeder zeitigen Freiheitsstrafe - seiner Natur nach nur vorübergehend. Auch ist davon auszugehen, was das Berufungsgericht als unstreitig angesehen hat, daß der Beklagte von vornherein die Absicht hatte, später wieder in die Wohnung zurückzukehren, und daß er sie nach seiner Entlassung tatsächlich wieder bezogen hat; die insoweit erhobene Verfahrensrüge des Beklagten mit dem Vorbringen, er habe seine bisherige Wohnung nicht wieder bezogen, ist, wie der Senat geprüft hat, nicht begründet (§ 565 a ZPO).

Die Dauer dieses Zustandes, hier zwei Monate, kann aber nicht mehr als geringfügig angesehen werden; sie währte immerhin nicht unerheblich länger als beispielsweise der durchschnittliche Jahresurlaub eines Arbeitnehmers. Die Abwesenheit des Beklagten von seiner Wohnung läßt sich daher nicht nur nach ihrer Art, sondern auch nach ihrer Dauer nicht mit einer Urlaubsabwesenheit vergleichen. Ferner ist die Zuweisung eines Zwangsaufenthalts ein Indiz dagegen, daß die bisherige Wohnung des Inhaftierten während dieser Zeit der räumliche Mittelpunkt seines Lebens bleibt. Erhält dann noch ihr Inhaber, wie es bei dem Beklagten der Fall war, während seiner Inhaftierung zu seiner Wohnung keine fortdauernde persönliche Beziehung aufrecht, wie sie etwa hätte bestehen können, wenn Angehörige des Beklagten noch dort gewohnt hätten, dann haben die bisher bewohnten Räume während dieses Zeitraums ihren Charakter als "Wohnung" im Sinne der §§ 181, 182 ZPO verloren.

Bei einer derartigen Abwesenheit läßt sich der mit den Vorschriften über die Ersatzzustellung verfolgte Zweck regelmäßig nicht mehr verwirklichen, dem Empfänger, wenn er schon selbst nicht angetroffen wird, doch auf einem möglichst schnellen und sicheren Weg Kenntnis von der Zustellung zu geben; es ist dann - wie gerade der vorliegende Fall zeigt - nicht mehr ausreichend gewährleistet, daß der Empfänger seine Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung innerhalb der durch die Zustellung in Lauf gesetzten Frist zweckmäßig einrichten kann. Da nach alledem unter der früheren Anschrift des Beklagten eine "Wohnung" im Sinne der §§ 181, 182 ZPO während seiner Inhaftierung nicht mehr bestand, war die dort bewirkte Ersatzzustellung durch Niederlegung (§ 182 ZPO) unwirksam.

e)

Mit dieser Betrachtungsweise knüpft der Senat an die Grundsätze des Beschlusses des 2. Strafsenats vom 2. Oktober 1951 (LM § 37 StPO Nr. 1 = NJW 51, 931) an, wobei hier dahingestellt bleiben mag, ob diese Grundsätze in jedem Falle auch bei einer nur einmonatigen Freiheitsstrafe gelten müssen, wie für den damaligen Sachverhalt entschieden.

Dieses Ergebnis entspricht der in §§ 181, 182 ZPO getroffenen Wertung der Interessen einerseits des Zustellenden an einem einfachen Zustellungsverfahren, das die Möglichkeit schaffen muß, dem Empfänger auch bei Abwesenheit zuzustellen, und andererseits des Empfängers an der Gewährung des rechtlichen Gehörs. Hielte man hier eine Ersatzzustellung auch bei zweimonatiger Abwesenheit unbeschränkt für zulässig, so würde dieser Interessenausgleich einseitig zu Lasten des Empfängers verschoben. Es ist im Regelfall Sache des Zustellenden, die richtige Anschrift des Empfängers zu ermitteln. Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der Empfänger bei dem Wohnungswechsel arglistig handelt, um die Zustellung zu vereiteln. Um einen solchen Fall handelt es sich hier aber nicht. Unstreitig fällt dem Beklagten arglistiges Verhalten nicht zur Last.

f)

Da die Zustellung des Versäumnisurteils nicht wirksam war, ist die Einspruchsfrist nicht in Lauf gesetzt worden. Der am 20. Mai 1974 beim Landgericht Mannheim eingegangene Einspruch war daher rechtzeitig; einer Wiedereinsetzung bedurfte es nicht.

3.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur Entscheidung über die sachliche Berechtigung des Klageanspruchs an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 3018729

NJW 1978, 1858

NJW 1978, 1858-1859 (Volltext mit amtl. LS)

MDR 1978, 558-559 (Volltext mit amtl. LS)

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