Rz. 14

Unter dem Eindruck der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, die die bis dahin nominalwertbasierten Abbildungssysteme letztlich zunehmend unbrauchbar werden ließen, entwickelte Fritz Schmidt die "organische Tageswertbilanz". Die Rechnungslegung ist in Deutschland nur auf eine nominelle Kapitalerhaltung ausgelegt. Bei Inflation entstehen Scheingewinne, da die Einsatzfaktoren zwischen der Beschaffung und dem Umsatzprozess einer Preissteigerung unterliegen. Verkauft ein Weinhändler 100 Flaschen Wein à 10 EUR und ist in dieser Zeit sein Einkaufspreis für eine Flasche von 8 EUR auf 9 EUR gestiegen, so enthält der Gewinn i. H. v. 200 EUR einen Scheingewinn i. H. v. 100 EUR. Aus der Sicht der realen Kapitalerhaltung hat der Weinhändler nur 100 EUR verdient.

 

Rz. 15

Eine Umsetzung der Idee der realen Kapitalerhaltung in die Praxis ist mit Problemen verbunden: Die Erfassung und Berücksichtigung der Wertänderungen aller Einsatzfaktoren wäre zu aufwändig; die Korrektur anhand einer pauschalen Indexrechnung zu ungenau, da sich "die" Inflation nicht bei allen Gütern in der gleichen Intensität niederschlägt. Während sich in den Niederlanden, Großbritannien und sogar in den IFRS einzelne Regelungen zur Realkapitalerhaltung finden lassen, kommt es im Handelsrecht aufgrund der Dominanz des Anschaffungswertprinzips grundsätzlich nur zur nominellen Kapitalerhaltung. Durch die Nichtberücksichtigung der Inflation im Jahresabschluss kann es zu einer nicht erkannten Verringerung der leistungswirtschaftlichen Substanz sowie im Steuerrecht zur Besteuerung von Scheingewinnen kommen. Dies wird zumindest teilweise ausgeglichen über das Vorsichtsprinzip, was zumindest in Zeiten steigender Preise durch den tendenziell überhöhten Ansatz von Aufwendungen und den durch das Realisationsprinzip tendenziell geringeren Ansatz von Erträgen zur realen Kapitalerhaltung beiträgt – allerdings nur bei Gesamtbetrachtung und ohne, dass eine konkrete Entsprechung zwischen ausgewiesenen "Scheingewinnen" und erzwungenen "Stillen Reserven" bestehen würde. Gleichwohl sei angemerkt, dass in einem stabilen Wirtschaftssystem, in dem es den Zentralbanken gelingt, die Inflation gering zu halten, die Aussagefähigkeit von Jahresabschlüssen im Durchschnitt auch nur marginal beeinträchtigt wird.

 

Rz. 16

Die Bezeichnung "organisch" leitet sich aus der gesamtwirtschaftlichen Sichtweise Schmidts ab: Erfolg ist frühestens dann vorhanden, wenn es dem Unternehmen gelingt, seine relative Stellung in der Gesamtwirtschaft zu behaupten.[1] Die organische Bilanztheorie ist eine dualistische Bilanztheorie, da sie sowohl auf die Gewinn- als auch auf die Vermögensermittlung abstellt.

[1] Vgl. Schmidt, Die organische Tageswertbilanz, 3. Aufl. 1929, S. 139. "Im Organismus der Gesamtwirtschaft ist die Unternehmung Zelle, ...", vgl. Schmidt, Die organische Tageswertbilanz, 3. Aufl. 1929, S. 47.

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