Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Senat hält an der in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung fest, daß die Ablehnung der Berichtigung eines unanfechtbar gewordenen, Eingangsabgaben betreffenden Steuerbescheides dann nicht ermessensmißbräuchlich ist, wenn der Steuerpflichtige es unterlassen hat, die Gründe, die die Berichtigung des Bescheides rechtfertigen, alsbald, d. h. wenn er sie während des Laufes der Rechtsmittelfrist erkannt hat oder den Umständen nach hätte erkennen müssen, auch innerhalb dieser Frist der Zollverwaltung mitzuteilen, und Nachsichtsgründe nicht vorliegen.

 

Normenkette

AO § 94 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Die Bgin. hat am 7. Juni 1960 eine Sendung Käse zum freien Verkehr abfertigen lassen, der auf ihre Verkaufsbüros im Bundesgebiet verteilt wurde. Bald nach der Verteilung stellten sich bei einem Großteil dieses Käses Sachmängel heraus. Am 1. Juli 1960 teilte die Bgin. der Lieferfirma die aufgetretenen Mängel mit und kündigte die übersendung von drei Mustern zur Untersuchung an. Ebenfalls am 1. Juli 1960 unterrichtete sie ihre Verkaufsbüros über die festgestellten Mängel und wies sie am 4. Juli 1960 an, die noch vorrätige Ware zurückzuhalten, da es sich hier offensichtlich um eine Fehlproduktion zu handeln scheine. Am 15. Juli 1960 wies sie alle Verkaufsbüros an, die noch vorhandenen Packungen zu vernichten und für bereits verkaufte bei Reklamationen großzügig Ersatz zu leisten. Am 22. Juli 1960 teilte sie ihrer Lieferfirma, die bereits am 18. Juli 1960 für die beanstandete Sendung Ersatz geliefert hatte, mit, daß sie Anweisung zur Vernichtung des Restbestandes gegeben habe, weil es sich offensichtlich um eine Fehlproduktion gehandelt habe, und stellte eine Debetnote in Aussicht. Am 25. Juli 1960 erhielt die Bgin. ein Schreiben ihrer Lieferfirma vom 22. Juli 1960, worin diese ihr mitteilte, die Untersuchung der Proben habe ergeben, daß der beanstandete Käse einer zweiten Fermentation ausgesetzt worden sei und infolgedessen nicht verkauft werden könne.

Mit Schreiben vom 2. November 1960, eingegangen beim Hauptzollamt am 10. November 1960, beantragte die Bgin. Erstattung der Eingangsabgaben für die vernichteten Packungen, da diese mit einem Fabrikationsfehler behaftet gewesen seien.

Der Antrag wurde unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs abgelehnt, da die Bgin. den Zollbescheid habe rechtskräftig werden lassen und Gründe für eine Nachsichtgewährung wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht vorlägen.

Der Einspruch blieb erfolglos, die Berufung dagegen führte zur Aufhebung der Einspruchsentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Hauptzollamt, da dessen Entscheidung auf einem Ermessensfehler beruhe.

Mit der vom Vorsteher des Hauptzollamts eingelegten Rb. wird beantragt, das Urteil des Finanzgerichts aufzuheben, da bei der gegebenen Sachlage nach der vom Finanzgericht zu Unrecht abgelehnten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Urteil V z 194/54 vom 16. August 1957, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1957 S. 343 ff., und Urteil VII 104/60 U vom 7. Dezember 1960, BStBl 1961 III S. 84, Slg. Bd. 72 S. 225) die Ablehnung des Berichtigungsantrages vom 2. November 1960 keinen Ermessensfehler darstelle.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist begründet.

Das Finanzgericht vertritt die Auffassung, es sei Sinn und Zweck des § 94 Abs. 1 Ziff. 1 AO, daß Zollbescheide gewissermaßen nur vorbehaltlich der späteren Berichtigung ergingen, daß damit der Gesetzgeber der Rechtskraftwirkung von Zollbescheiden nur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen habe, daß deshalb eine Berichtigung von Zollbescheiden auch zugunsten der Abgabepflichtigen bis zum Ablauf der Verjährungsfrist im Gesetz ohne jede Einschränkung möglich sei und daß daher nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes, den insbesondere der Schöpfer der AO Enno Becker (Die Reichsabgabenordnung, 5. Aufl., § 76 Anm. 2) deutlich hervorgehoben habe, die Zollbehörden auch verpflichtet seien, von ihrem Ermessen, Abgabenbescheide zugunsten der Abgabepflichtigen zu berichtigen, Gebrauch zu machen, ohne dabei Erwägungen über die Rechtskraft von Abgabenbescheiden anstellen zu dürfen.

Die Gedankengänge des Finanzgerichts sind zunächst insoweit ungenau, als es, wie sich aus dem Zusammenhang seiner Ausführungen ergibt, die Pflicht zur Ermessensausübung gleichsetzt der Pflicht zu einer vorbehaltslosen Berichtigung zugunsten des Zollbeteiligten. Das Wesen der Ermessensausübung besteht aber gerade darin, daß der Verwaltung die Möglichkeit gegeben ist, aus sachgerechten Erwägungen entweder zu berichtigen oder eine Berichtigung abzulehnen. Wenn sie dann bei dieser Abwägung Gedankengänge, die sich aus der Gesamtkonzeption der AO, d. h. dem Nebeneinanderbestehen der änderungsmöglichkeiten nach § 94 AO und der durch Rechtsmitteleinlegung zu erreichenden änderung von Steuerbescheiden, ergeben, zur Grundlage ihrer Ermessens-, d. h. Willensentscheidung macht, so ist das im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung nicht zu beanstanden, wie der Bundesfinanzhof in seiner ständigen Rechtsprechung zu dieser Frage entschieden hat.

Das Finanzgericht glaubt, seine Auffassung aus den Ausführungen Beckers a. a. O. ableiten zu sollen, die aber nach Auffassung des Senats nicht zu so weitgehenden Folgerungen berechtigen, wie sie das Finanzgericht zieht. Denn wenn Becker zum Sinn und Zweck des § 94 AO ausführt, "daß bei den Zöllen und Verbrauchsabgaben die Steuer mehr summarisch, rechnungsmäßig, oft durch untergeordnete Stellen festgesetzt wird, ohne daß, wenigstens in der Regel, ein eingehendes Veranlagungsverfahren Platz greift" und daß "deshalb hier im erhöhten Maße das Bedürfnis besteht, Versehen, insbesondere auch zugunsten des Steuerpflichtigen, zu berichtigen", so ist das an sich richtig, es kann aber daraus nicht gefolgert werden, daß darunter auch alle zwar objektiv unrichtigen, nicht aber auch auf einem Versehen - nämlich der Verwaltung - beruhenden Abgabebescheide fallen. Becker hat nach Auffassung des Senats an die Fälle gedacht, bei denen versehentlich Unrichtigkeiten bei der Abfertigung unterlaufen sind, die nicht unter § 92 Abs. 3 AO fallen, nicht aber an solche Fälle, bei denen entweder auf Grund einer zwar unrichtigen, aber von der Verwaltung bewußt vertretenen Auffassung ein objektiv unrichtiger Abgabenbescheid erlassen wurde oder bei denen ein im Hinblick auf den im Zeitpunkt der Abfertigung einer Ware bekannten Sachverhalt zunächst zutreffender Zollbescheid erging, dessen objektive Unrichtigkeit sich erst durch später bekanntwerdende Tatsachen herausstellte. Wollte man auch in diesen Fällen ohne jede Einschränkung, wie es das Finanzgericht für richtig hält, die Ablehnung der änderung des Abgabenbescheides bis zum Ablauf der Verjährungsfrist für ermessensfehlerhaft halten, so wäre in der Tat nicht einzusehen, weshalb in der AO auch bei Zöllen und Verbrauchsteuern ein normales, an Fristen gebundenes Rechtsmittelverfahren überhaupt vorgesehen ist. Denn diese Auffassung würde in letzter Konsequenz dazu führen, daß selbst ein verspätetes und mangels Vorliegens von Nachsichtsgründen als unzulässig verworfenes Rechtsmittel für den Steuerpflichtigen kein Hindernis wäre, auf dem Wege über die Beantragung einer Berichtigung nach § 94 AO zu dem gleichen materiellen Ergebnis zu gelangen, das er im Rechtsmittelverfahren nicht erreichen konnte. Das aber kann nicht der Sinn des § 94 AO sein. Diese Erwägungen haben den Senat veranlaßt, die änderungsmöglichkeiten des § 94 AO nicht isoliert, sondern nur in sinnvollem Zusammenhang mit den Rechtsmittelvorschriften der AO auszulegen, d. h. die Ermessensausübung der Verwaltung bei der Ablehnung von änderungsanträgen daran zu messen, ob der Steuerpflichtige in der Lage war, seine Rechte in dem primär dafür bestimmten Rechtsmittelverfahren geltend zu machen. Wenn der Senat in Verfolgung dieser Rechtsgedanken in ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteil VII 104/60 U vom 7. Dezember 1960, a. a. O.; VII 63/61 vom 14. März 1962, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963 S. 31 Nr. 32, und VII 155/62 U vom 30. Juni 1964, BStBl 1964 III S. 490) ausgesprochen hat, daß die Ablehnung der Berichtigung eines unanfechtbar gewordenen, Eingangsabgaben betreffenden Steuerbescheides dann nicht ermessensmißbräuchlich ist, wenn der Steuerpflichtige die Gründe für die Fehlerhaftigkeit des Steuerbescheides rechtzeitig, d. h. während des Laufes der Rechtsmittelfrist erfahren hat und Nachsichtsgründe für eine Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht vorliegen, so hat er es insbesondere auch mit Rücksicht auf diejenigen durch den übergang zur Wertverzollung bedeutsam gewordenen Fälle getan, in denen eine änderung des Abgabenbescheides verlangt wird, weil der Zollbeteiligte nach Abfertigung der Ware zum freien Verkehr an ihr einen Sachmangel festgestellt hat. Es handelt sich dabei also um einen der bereits oben erwähnten Fälle, in denen die Abänderung eines Zollbescheids verlangt wird, der nach den im Zeitpunkt der Abfertigung bekannten Umständen zutreffend ergangen ist und dessen objektive Unrichtigkeit sich erst durch später bekanntwerdende Tatsachen herausstellt, die aber im Zeitpunkt der Abfertigung bereits gegeben waren. Da aber Grundlage jeder Zollerhebung auch im Wertzollsystem die eingeführte Ware ist, diese aber durch die Abfertigung zum freien Verkehr aus dem Bereich der Zollverwaltung entfernt wird, kommt es für eine etwaige Berücksichtigung der Wertminderung im Rahmen einer Berichtigung in erster Linie darauf an, daß die Identität der beanstandeten Ware mit der zum freien Verkehr abgefertigten und das Vorhandensein des behaupteten Mangels an der Ware als Grundlage für eine spätere anderweitige Abgabenfestsetzung festgestellt wird. Hingegen kommt es auf die Anerkennung dieses Mangels durch den Lieferanten und die sich daraus ergebende Minderung des Kaufpreises erst in zweiter Linie an.

Da es für die Höhe des Zolles in diesen Fällen ausschließlich auf die Beschaffenheit und damit den Wert der Ware im Zeitpunkt der Abfertigung zum freien Verkehr ankommt, ist es auch gleichgültig, ob der ausländische Lieferer oder ein anderer (z. B. das Transportunternehmen) oder überhaupt niemand (im Falle höherer Gewalt) den Mangel zu vertreten hat. Da jede Ermessensausübung, um rechtmäßig zu sein, unter dem Gebot von Recht und Billigkeit steht, das ein Abwägen der beiderseitigen Interessen sowohl des Abgabepflichtigen wie der Zollverwaltung fordert, kann es im Hinblick auf das vorstehend Gesagte nicht als unbillig angesehen werden, wenn die Zollverwaltung in solchen Fällen verlangt, daß der Zollbeteiligte sie von dem Mangel der Ware, von dem er weiß oder den Umständen nach annehmen muß, daß er im Zeitpunkt der Abfertigung zum freien Verkehr bereits vorgelegen hat und daher für eine Berichtigung des Zollbescheides von Bedeutung sein kann, alsbald, d. h. wenn er ihn innerhalb der Rechtsmittelfrist erkannt hat, auch innerhalb dieser Frist in Kenntnis setzt, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihrerseits das Erforderliche wegen der Feststellung der Identität und des Mangels der Ware zu veranlassen. Unterläßt der Zollbeteiligte diese auch in seinem eigenen Interesse liegende alsbaldige Unterrichtung der Verwaltung, dann kann es in aller Regel nicht als ermessensmißbräuchlich angesehen werden, wenn die Verwaltung eine änderung des Zollbescheides ablehnt. Geschieht die Unterrichtung der Zollverwaltung vor dem Ablauf der Rechtsmittelfrist, so erreicht der Zollbeteiligte jedenfalls, daß sich die Verwaltung bei einer etwaigen Ablehnung einer Berichtigung ihm gegenüber nicht auf eine danach durch Ablauf der Rechtsmittelfrist unter Umständen eingetretene Unanfechtbarkeit des Abgabenbescheides berufen kann, da die Mitteilung des Sachmangels unter dem Gesichtspunkt seiner Geltendmachung bei der Zollfestsetzung in einem solchen Fall als Rechtsmitteleinlegung angesehen werden müßte. Es ist daher aber auch nicht als ermessensmißbräuchlich anzusehen, wenn die Zollverwaltung die änderung eines Zollbescheides nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ablehnt, die der Zollbeteiligte aus Gründen beantragt, die er bereits während des Laufs dieser Frist hätte vorbringen können, es sei denn, daß dieses verspätete Vorbringen nach den Grundsätzen der Nachsichtgewährung entschuldbar ist. Wenn das Finanzgericht unter Berufung auf Becker meint, daß kein innerer Zusammenhang zwischen § 94 Abs. 1 Ziff. 1 und § 86 AO bestehe, so trifft das insofern zu, als kein unmittelbar rechtlicher Zusammenhang in der Weise besteht, daß § 94 AO der Zollverwaltung nicht das Recht gebe, auch zu ändern, wenn keine Nachsichtsgründe vorliegen. Es schließt das aber nicht aus, daß die Verwaltung sich im Rahmen ihrer Ermessensausübung von den oben dargelegten sachgerechten Erwägungen bei ihrer nach Recht und Billigkeit zu treffenden Willensentscheidung leiten lassen kann.

Der Senat sieht daher keine Veranlassung, von seiner ständigen Rechtsprechung zu dieser Frage abzuweichen.

Im Streitfall hat die Bgin. bereits vor Ablauf der Rechtsmittelfrist (7. Juli 1960), nämlich am 1. Juli 1960 ihre Lieferantin von dem Mangel unterrichtet und am 4. Juli 1960 ihre Verkaufsbüros angewiesen, die Ware zurückzuhalten, weil es sich offensichtlich um eine Fehlproduktion handle, d. h. also um einen Sachmangel, der dann auch bereits im Zeitpunkt der Abfertigung zum freien Verkehr vorgelegen haben mußte. Wenn das Finanzgericht meint, es sei der Bgin. nicht zuzumuten gewesen, vor Abklärung der Fragen a) in welchem Umfang Sachmängel aufgetreten sind und b) wer diese Sachmängel zu vertreten hat, ein Rechtsmittel gegen den Abgabenbescheid einzulegen, so kann dem nicht gefolgt werden. Denn wie oben ausgeführt, kam es für die Frage einer eventuellen Berichtigung des Zollbescheids zugunsten der Bgin. darauf, wer den Sachmangel zu vertreten hat, überhaupt nicht und auf die Frage des Umfanges des Mangels erst in zweiter Linie an. Das Verlangen aber, alsbald - und zwar im eigenen Interesse - die Zollverwaltung über den tatsächlich festgestellten Sachmangel zu unterrichten - und damit für den Fall der Ablehnung einer Berichtigung ein Rechtsmittel eingelegt zu haben - und ihr damit die Möglichkeit zu geben, ihrerseits die Identität der verdorbenen Partien mit der eingeführten Ware und deren Mangelhaftigkeit und damit die Veränderung der Besteuerungsgrundlagen von sich aus festzustellen, kann nicht als unzumutbar angesehen werden. Wenn die Bgin. darüber hinaus die eingeführte Ware ohne vorherige Verständigung der Zollverwaltung hat vernichten lassen - und das in einem Zeitpunkt (15. Juli 1960), in dem ihr die Ursache des Verderbens der Ware von ihrer Lieferantin noch nicht mitgeteilt worden war -, so erscheint es in einem solchen Fall nicht ermessensmißbräuchlich, wenn die Verwaltung es abgelehnt hat, auf den erst am 10. November 1960 bei ihr eingegangenen Antrag den seit 7. Juli 1960 unanfechtbaren Abgabenbescheid abzuändern.

Da die Vorinstanz das verkannt hat, war ihre Entscheidung aufzuheben und in der spruchreifen Sache die Berufung der Bgin. gegen die Einspruchsentscheidung des Hauptzollamts als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411371

BStBl III 1964, 651

BFHE 1965, 492

BFHE 80, 492

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