Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Berufsrecht Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Urteil, das von einem nicht ordnungsmäßig konstituierten Steuergericht erlassen ist, kann unter entsprechender Anwendung der §§ 578 ff. ZPO mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden.

 

Normenkette

AO §§ 228-229, 232/1, § 231; FGO §§ 33, 134; ZPO §§ 578, 579 Abs. 1, §§ 586-587

 

Tatbestand

Der Bf. ist Amtsbürgermeister a. D. und wohnt im Saarland. Bei den Einkommensteuerveranlagungen 1952 und 1953 wurden die dem Bf. in diesen Jahren zugeflossenen Renten aus der Angestelltenversicherung voll als sonstige Einkünfte angesetzt. Der Bf. bestritt daß diese Einkünfte zur Veranlagung herangezogen werden könnten.

Der Einspruch blieb ohne Erfolg; ebenso die Berufung beim Finanzgericht. Die Rb. wurde von dem damals zuständigen Oberverwaltungsgericht des Saarlandes als unzulässig verworfen. Den Antrag des Bf., das Urteil wegen eines darin enthaltenen Fehlers nochmals zu überprüfen und zu ändern, verwarf das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes durch Beschluß vom 30. Oktober 1958 ebenfalls als unzulässig.

Unter Hinweis auf § 579 der Zivilprozeßordnung (ZPO) und weil nach seiner Ansicht das Finanzgericht des Saarlandes damals nicht ordnungsgemäß konstituiert war, stellte der Bf. im Jahre 1962 bei dem Finanzgericht den Antrag, das frühere Urteil des Finanzgerichts für nichtig zu erklären und die Einspruchsentscheidung seinem früheren Begehren entsprechend zu ändern.

Das Finanzgericht hob sein früheres Urteil auf, wies aber die Berufung wiederum als unbegründet zurück. Es führte aus, die Nichtigkeitsklage des Bf. gegen das Urteil des Finanzgerichts vom 18. Juli 1956 sei unter entsprechender Anwendung der Vorschriften der §§ 578 ff. ZPO zulässig. Der Bundesfinanzhof habe zwar mehrfach entschieden, daß im steuergerichtlichen Verfahren ausschließlich die Verfahrensregeln der AO anzuwenden seien. In dem durch das Urteil des Bundesfinanzhofs VII 178/58 vom 8. November 1961 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1962 S. 205) entschiedenen Fall habe es sich aber - im Gegensatz zu dem Streitfall - um eine Frage gehandelt, die in der AO ausdrücklich abweichend von der ZPO geregelt gewesen sei, während die AO zu der Frage der Nichtigkeits- bzw. Restitutionsklage im Sinne des Vierten Buches der Zivilprozeßordnung (Wiederaufnahme des Verfahrens) schweige. Nach Ansicht des Finanzgerichts besteht hier eine echte Lücke im Gesetz, die durch Heranziehung der entsprechenden Vorschriften der ZPO ausgefüllt werden müsse. Dies ergebe sich auch daraus, daß alle modernen Prozeßordnungen eigene Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens hätten, z. B. §§ 153, 134 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, § 79 des Arbeitsgerichtsgesetzes und §§ 179 ff. des Sozialgerichtsgesetzes. Selbst das saarländische Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit (VGG) vom 10. Juli 1951 (Amtsblatt des Saarlandes 1951 S. 1075) enthalte in § 96 eine Verweisung auf die ZPO. Nach allem sei kein Grund, allein den rechtsuchenden Abgabeschuldnern die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines rechtskräftigen Verfahrens abzuschneiden. Die Nichtigkeitsklage sei auch fristgerecht eingelegt worden. Nach § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO sei die Nichtigkeitsklage innerhalb einer Ausschlußfrist von fünf Jahren zu erheben. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes sei dem Bf. am 1. August 1957 zugestellt worden. Der Bf. habe erst durch die Schreiben des Finanzgerichts vom 10. und 24. April 1962 Kenntnis von einem möglichen Nichtigkeitsgrund des finanzgerichtlichen Urteils erlangt. In seinem Schriftsatz vom 16. Mai 1962 habe er zwar nicht ausdrücklich eine Nichtigkeitsklage erhoben; es gehe aus diesem Schriftsatz aber hervor, daß er sich alle Rechte habe vorbehalten wollen, indem er vollinhaltlich den Ausführungen des Finanzgerichts beitrat. Ein solcher Vorbehalt ergebe sich auch schon aus seinen früheren Schriftsätzen vom 2. September 1957 und vom 10. Juli 1958 sowie aus seinen in dem Protokoll vom 30. September 1958 wiedergegebenen äußerungen. Unter diesen Umständen sei bereits in dem Schriftsatz des Bf. vom 16. Mai 1962 schlüssig die Einlegung der Nichtigkeitsklage zu erblicken. Daß der Bf. bei erster Gelegenheit diesen Rechtsbehelf habe ergreifen wollen, werde auch durch seine Schriftsätze vom 18. Januar 1963 und vom 9. Februar 1963 bestätigt, in denen er ausdrücklich die Nichtigkeitsklage vom 18. Juli 1956 erhoben habe. Nach allem habe der Bf. die fünfjährige Ausschlußfrist und die Notfrist von einem Monat nah § 586 ZPO eingehalten. Die Nichtigkeitsklage sei nach § 579 Abs. 1 ZPO auch begründet. Die ehrenamtlichen Beisitzer seien erstmalig im Dezember 1962 auf die beiden Kammern des Finanzgerichts aufgeteilt worden. Vorher, also auch im Juli 1956, als das angefochtene Urteil erlassen wurde, sei das Finanzgericht demnach nicht ordnungsgemäß konstituiert gewesen. Das frühere Urteil vom 18. Juli 1956 sei demnach aufzuheben. In der Sache selbst sei aber wie in dem früheren Urteil zu entscheiden. Der Bf. habe in seinen Steuererklärungen 1952 und 1953 die Einkünfte aus der Angestelltenversicherung zutreffend als sonstige Einkünfte erklärt; das Finanzamt habe sie ebenfalls ohne Rechtsirrtum entsprechend behandelt. Die Bezüge des Bf. aus der Angestelltenversicherung gehörten zu den sonstigen Einkünften im Sinne des § 29 EStG (Saarland), der die Renten aus dieser Versicherung ausdrücklich erwähne. Durch § 29 EStG (Saarland) würden zwar nicht solche wiederkehrenden Bezüge erfaßt, die bereits unter andere Einkunftsarten zu rechnen seien. Die Bezüge des Bf. fielen nicht unter die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 26 EStG Saarland); denn sie seien ihm nicht unmittelbar vom Arbeitgeber als Entgelt für eine gegenwärtige oder frühere nichtselbständige Leistung gewährt worden. Der frühere Arbeitgeber des Bf. sei zwar verpflichtet gewesen, einen Teil der Bezüge aus nichtselbständiger Arbeit zu Beitragszahlungen an die Angestelltenversicherung zu verwenden. Durch diese Leistungen sei aber ein neuer Rechtsgrund für die späteren Bezüge geschaffen worden, der in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem früheren Arbeitsverhältnis stehe. Dieses Ergebnis werde auch nicht durch § 53 EStG (Saarland) beeinflußt, nach welchem bei Renten aus der Angestelltenversicherung der Einkommensteuer durch Steuerabzug erhoben werde. Nach § 67 Abs. 4 EStG (Saarland) habe der Minister der Finanzen und Forsten zu bestimmen, von welchem künftigen Zeitpunkt ab der Steuerabzug von Zeitrenten (§ 53 EStG Saarland) vorzunehmen sei. Eine derartige Bestimmung sei aber nicht ergangen. Außerdem ergebe sich aus der Stellung dieser Vorschrift in dem Abschn. V des § 53 EStG (Saarland) 1950 ("Entrichtung der Steuer"), daß die Vorschrift lediglich die Erhebungsform der Steuer regele, nicht aber auch die Einreihung von Einkünften in die Einkunftsarten des EStG. Die Rüge des Bf., das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes habe in seinem Urteil vom 11. Juli 1957 irrtümlich ausgeführt, er sei auch dann zur Einkommensteuer zu veranlagen, wenn es sich bei den Bezügen aus der Angestelltenversicherung um Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit handele, brauche nicht weiter untersucht zu werden; denn diese Erwägung trage weder die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes des Saarlandes noch die frühere Entscheidung des Finanzgerichts.

Mit seiner Rb. rügt der Bf. unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts. Nach seiner Ansicht ist er zu Unrecht veranlagt worden. Er meint, die Bezüge aus der Angestelltenversicherung seien ebenso zu behandeln wie Veräußerungsrenten. Sie seien auf Grund der geleisteten Beiträge, also entgeltlich erworben. Sie hätten, wenn überhaupt, nur mit dem Ertragsanteil angesetzt werden können. Auf jeden Fall hätte dann aber, weil es sich um Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit handle, Lohnsteuer einbehalten werden müssen. Die Nichterhebung der Lohnsteuer sei kein Grund, ihn als Arbeitnehmer zu veranlagen.

Der Bundesminister der Finanzen, der dem Verfahren gemäß § 287 Ziff. 2 AO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Verfahrensfrage beigetreten ist, hat sich zur Zulässigkeit der Wiederaufnahme (Nichtigkeitsklage) geäußert. Er will die entsprechenden Vorschriften der ZPO auch im Steuerprozeß beachtet wissen. Er ist der Auffassung, daß der Bf. die Nichtigkeitsklage rechtzeitig erhoben habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. muß, wenn auch aus anderen Gründen als den vorgebrachten, zur Aufhebung der Vorentscheidung führen.

Eine Nichtigkeitsklage ist im Verfahrensrecht der AO nicht vorgesehen; die AO sieht nicht wie die §§ 579 und 580 ZPO die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens auf Grund einer Nichtigkeits- oder Restitutionsklage vor; auch die entsprechende Anwendung dieser Vorschriften ist in der AO nicht wie in anderen Verfahrensordnungen vorgesehen.

Wie das Finanzgericht zutreffend ausführt, findet sich eine den §§ 579 ff. ZPO entsprechende Regelung in allen anderen Prozeßordnungen, indem entweder die Vorschriften des Vierten Buches der Zivilprozeßordnung für entsprechend anwendbar erklärt werden (so in § 153 VwGO, §§ 179 ff. des Sozialgerichtsgesetzes, § 79 des Arbeitsgerichtsgesetzes) oder daß eigene Vorschriften gegeben werden (so in §§ 359 ff. der Strafprozeßordnung - StPO -). Auch der Entwurf der Finanzgerichtsordnung sieht in § 124 eine entsprechende Regelung vor. Mit dem Finanzgericht und dem Bundesminister der Finanzen kann man in diesen Vorschriften den Niederschlag eines allgemeinen Rechtsprinzips sehen, daß die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Verfahrens unter bestimmten Voraussetzungen dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit entspricht und ein notwendiger Bestandteil des modernen Prozeßrechts ist. Allerdings können die für andere Prozeßordnungen geltenden Regelungen nicht ohne weiteres in Bausch und Bogen für den Steuerprozeß übernommen werden (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs III 295/63 U vom 24. Januar 1964, BStBl 1964 III S. 314, Slg. Bd. 79 S. 229, betreffend die Ablehnung von absoluten Revisionsgründen im Steuerprozeß). Wo es um die nicht ordnungsmäßige Konstituierung eines Gerichts geht, greift auch der verfassungsrechtliche Grundsatz, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf (vgl. Art. 14 Abs. 1 der Saarländischen Verfassung vom 15. Dezember 1947 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes - GG -), ein. In diesen Fällen ist darum der § 579 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO auch für das Steuerprozeßrecht entsprechend anzuwenden, so daß die Nichtigkeitsklage zulässig ist, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war".

Die Nichtigkeitsklage ist aber im Streitfall sachlich nicht begründet. Hält man eine Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO im Steuerprozeßrecht für zulässig, so müssen auch die formellen Erfordernisse der ZPO maßgebend sein. Darüber hinwegzusehen ist nicht gerechtfertigt, weil die ZPO bewußt die notwendigerweise in Widerspruch tretenden Rechtsgüter, nämlich einerseits die sachliche Richtigkeit der Entscheidung und andererseits den Rechtsfrieden gegeneinander abgewogen hat. Nach § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO kann nämlich die Nichtigkeitsklage nach Ablauf von fünf Jahren, von dem Tage der Rechtskraft des Urteils an gerechnet, nicht mehr erhoben werden. Ist das streitige Urteil mit der Zustellung des Urteils des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes am 1. August 1957 rechtskräftig geworden, so konnte die Nichtigkeitsklage nach dem 1. August 1962 nicht mehr erhoben werden. Der Auffassung des Finanzgerichts, das Schreiben des Bf. vom 16. Mai 1962 sei eine der Klageerhebung gleichzusetzende Willensäußerung, so daß also die Frist des § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO gewahrt sei, ist nicht beizutreten. Nach § 587 ZPO muß nämlich in der Klage die Bezeichnung des Urteils enthalten sein, gegen das die Nichtigkeits- oder Restitutionsklage gerichtet wird, und die Erklärung, welche dieser Klagen erhoben wird. Wenn auch die wörtliche Bezeichnung der Klage unwesentlich ist, so ist doch die eindeutige Bezeichnung des Klägers, des Beklagten und des Gerichts erforderlich (vgl. Baumbach, Zivilprozeßordnung, 26. Aufl. 1961, § 587 Anm. 1; Klinger, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 1960 Anm. C zu § 587 ZPO, S. 521; Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 61 S. 420). Diese Voraussetzungen sind durch das vom Finanzgericht angezogene Schreiben des Bf. nicht erfüllt. Der Wille des Bf., sich alle Rechte vorzubehalten, besagt nichts über die Erhebung einer Nichtigkeitsklage.

Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben. Die Nichtigkeitsklage war als unzulässig zurückzuweisen.

Im übrigen ist aber in der Sache selbst den Ausführungen des angefochtenen Urteils in vollem Umfang beizutreten. Daß das Finanzamt den Bf. auch mit den Bezügen aus der Angestelltenversicherung zur Einkommensteuer herangezogen hat, entspricht dem Gesetz. Wie das Finanzgericht zutreffend ausgeführt hat, gehören diese Bezüge weder zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit noch zu den dem Steuerabzug unterworfenen Einnahmen. Es ist auch rechtlich nicht zu beanstanden, daß das Finanzgericht die Bezüge aus der Angestelltenversicherung nicht nur mit dem Ertragsanteil zur Einkommensteuer herangezogen hat. Der Ansatz des Ertragsanteils entspricht zwar dem jetzt geltenden Gesetz, gilt aber nicht auch für die Streitjahre 1952 bis 1953. Auch aus der Rechtsprechung über die Erfassung entgeltlicher erworbener Renten ist für den Streitfall nichts zu folgern. Daß Renten aus der Angestelltenversicherung voll anzusetzen waren, war für die Streitjahre nicht zweifelhaft.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411597

BStBl III 1965, 367

BFHE 1965, 335

BFHE 82, 335

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