Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Entscheidet das Finanzgericht einen Streitfall vor Ablauf der Frist, die es dem Steuerpflichtigen zur Abgabe einer Stellungnahme gesetzt hat, so liegt darin ein Verfahrensmangel, der aber nur wesentlich ist, wenn der innerhalb der Frist eingereichte Schriftsatz Ausführungen enthält, bei deren Kenntnis die Entscheidung des Finanzgerichts möglicherweise anders ausgefallen wäre.

Der Senat hält daran fest, daß Erstattungsverfügungen im Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren grundsätzlich begünstigende Verwaltungsakte im Sinne von § 96 AO sind.

Hat das Finanzamt im Lohnsteuer-Jahresausgleich dem Steuerpflichtigen auf Grund einer unrichtigen Lohnbescheinigung des Arbeitgebers zuviel an Lohnsteuer erstattet, so kann es den zuviel erstatteten Betrag auf Grund von § 223 AO in Verbindung mit § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StAnpG zurückfordern.

AO §§ 92 Abs. 3, 94 Abs. 1 Ziff. 2, 96 Abs. 1 und 2, 223, 288 Ziff. 2; StAnpG § 4 Abs. 3 Ziff. 2; EStG

 

Normenkette

AO § 92 Abs. 3, § 92/2, § 94 Abs. 1, § 96 Abs. 1-2, §§ 223, 288 Nr. 2; StAnpG § 4 Abs. 3 Ziff. 2; EStG § 19/1, § 38; JAV §§ 4-6

 

Tatbestand

Das Finanzamt erstattete der Bfin., einer Angestellten, im Lohnsteuer-Jahresausgleich 1961 auf Grund einer unrichtigen Lohnbescheinigung des Arbeitgebers 18 DM zuviel an Lohnsteuer. Als der Arbeitgeber später die Lohnbescheinigung berichtigte, forderte das Finanzamt die 18 DM von der Bfin. zurück. Die Bfin. weigerte sich, den Betrag zurückzuzahlen, weil Erstattungen im Lohnsteuer-Jahresausgleich nur bei offenbarer Unrichtigkeit der Erstattungsverfügung (ß 92 Abs. 3 AO) oder nur dann berichtigt werden könnten, wenn die Erstattung durch unlautere Mittel (ß 96 Abs. 2 AO) erreicht seien. Davon sei hier nicht die Rede. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht bestätigte den Rückforderungsbescheid des Finanzamts. Seine Entscheidung ist in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 1964 S. 37 veröffentlicht. Es führte aus, das Finanzamt könne den Rückzahlungsanspruch auf § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO stützen, wonach Erstattungsverfügungen berichtigt werden könnten, wenn der Steuerpflichtige damit einverstanden sei. Die Erstattung von Lohnsteuer sei ein bestätigender (deklaratorischer) Verwaltungsakt. Der Auffassung des Bundesfinanzhofs, daß Erstattungsverfügungen im Lohnsteuer-Jahresausgleich rechtsbegründender (konstruktiver) Natur seien, sei nicht zu folgen. Die Bfin. habe ihre Zustimmung zu der Berichtigung dadurch erteilt, daß sie dem Finanzamt die berichtigte Lohnbescheinigung des Arbeitgebers vorgelegt habe. Aber selbst wenn man die Lohnsteuererstattung mit dem Bundesfinanzhof als konstitutive Verfügung ansehe, sei die Rückforderung gemäß § 223 AO gerechtfertigt.

Mit der Rb. beanstandet die Bfin., daß ihr kein ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden sei; denn die Entscheidung des Finanzgerichts sei ergangen, bevor ihre fristgerecht eingereichte Stellungnahme dem Finanzgericht vorgelegen habe. Im übrigen hält die Bfin. die Rückforderung weiterhin für sachlich unberechtigt.

 

Entscheidungsgründe

Auch die Rb. ist unbegründet.

Die Verfahrensrüge greift nicht durch. Das Finanzgericht hatte mit dem Schreiben vom 27. Juni 1963 der Bfin. die Stellungnahme des Finanzamts zugesandt und gleichzeitig eine Frist zu einer etwaigen Gegenerklärung bis längstens 31. Juli 1963 gesetzt. Die Stellungnahme der Bfin. vom 30. Juli 1963 ging am gleichen Tage beim Finanzgericht ein; sie wurde also innerhalb der gesetzten Frist abgegeben. Das Finanzgericht entschied jedoch, ohne den Ablauf der gesetzten Frist abzuwarten, über die Berufung bereits am 19. Juli 1963. Darin liegt zwar ein Verfahrensmangel. Das Gesetz erkennt aber in § 288 Ziff. 2 AO als Verfahrensmängel, die zur Aufhebung der Vorentscheidung führen, nur solche an, die "wesentlich" sind, d. h. solche, die bei ordnungsmäßigem Verfahren möglicherweise zu einer anderen Entscheidung geführt hätten (vgl. z. B. Urteil des Reichsfinanzhofs I A 55/34 vom 11. Dezember 1934, RStBl 1935 S. 119). Im Schriftsatz vom 30. Juli 1963 trug die Bfin. aber nichts Neues in tatsächlicher Hinsicht vor. Sie machte vielmehr nur Rechtsausführungen, die sie auch im Rechtsbeschwerdeverfahren wiederholt. Es besteht kein Anhalt, daß das Finanzgericht bei der Verwertung der Ausführungen der Bfin. im Schriftsatz vom 30. Juli 1963 anders entschieden hätten.

Die Rückforderung des Betrages von 18 DM ist auch sachlich gerechtfertigt.

Der Anspruch des Finanzamts kann allerdings nicht, wie das Finanzgericht annimmt, auf § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO gestützt werden. Erstattungsverfügungen des Finanzamts im Lohnsteuer-Jahresausgleich sind keine Bescheide im Sinn dieser Vorschrift, sondern nach der Rechtsprechung des Senats (z. B. in den Urteilen VI 228/59 S vom 6. Mai 1960, BStBl 1960 III S. 296, Slg. Bd. 71 S. 126; VI 85/61 U vom 16. März 1962, BStBl 1962 III S. 282, Slg. Bd. 75 S. 36; VI 167/61 U vom 20. Juli 1962, BStBl 1963 III S. 23, Slg. Bd. 76 S. 64; VI 237/64 vom 9. Juni 1965, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1965 S. 513) begünstigende Verwaltungsakte im Sinn von § 96 AO. An dieser Auffassung hält der Senat fest. Im übrigen ist die Konstruktion des Finanzgerichts, daß die Bfin. mit der Vorlage der berichtigten Lohnbescheinigung ihre Zustimmung zur Berichtigung erklärt habe, sachlich ungerechtfertigt. Eine solche der Bfin. nachteilige Willenserklärung hätte das Finanzgericht nur annehmen können, wenn sie einwandfrei zum Ausdruck gekommen wäre. Wenn es dem Verhalten der Bfin. diese Deutung geben wollte, hätte es die Bfin. vorher zur Stellungnahme auffordern müssen. Es ist aber nicht zweifelhaft, daß die Bfin. sich dann dagegen gewehrt hätte.

Das Finanzgericht nimmt an, die Rückforderung könne auch auf § 223 AO gestützt werden, weil der Erstattungsbescheid im Lohnsteuer-Jahresausgleich kein Bescheid im Sinne des § 222 AO sei. Darin ist ihm im Ergebnis zuzustimmen. Wenn das Finanzamt im Lohnsteuer-Jahresausgleich einbehaltene Lohnsteuer auf Grund einer unrichtigen Lohnbescheinigung des Arbeitgebers zu Unrecht erstattet, so kann es in diesem Punkt später den Erstattungsbescheid gemäß § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StAnpG berichtigen. Die Lohnbescheinigung gibt die Höhe der Bezüge an. Diese Angabe wird im Lohnsteuer-Jahresausgleich zugrunde gelegt, ohne daß die Angaben des Arbeitgebers näher geprüft werden. Die einwandfreie Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs setzt voraus, daß eine sachlich richtige Lohnbescheinigung des Arbeitgebers dem Finanzamt vorgelegt wird. Hat der Arbeitgeber die Bezüge des Arbeitnehmers in der Lohnbescheinigung unrichtig angegeben - gleichviel, ob mit oder ohne Verschulden -, so ist der Lohnsteuer-Jahresausgleich nicht ordnungsmäßig vorgenommen worden. Er kann dann gemäß § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StAnpG später geändert werden, weil ein Merkmal, dessen Vorhandensein das Gesetz für die Steuererstattung fordert, auf Grund der berichtigten Gehaltsbescheinigung mit Wirkung für die Vergangenheit weggefallen ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob man die Rückforderung - ähnlich wie in den Fällen der Steuererstattung an einen Nichtberechtigten (Urteil des Bundesfinanzhofs III 133/57 U vom 5. Dezember 1958, BStBl 1959 III S. 179, Slg. Bd. 68 S. 472) - oder der Rückforderung von zu Unrecht gezahlter Wohnungsbau-Prämie (Urteil des Senats VI 260/64 U vom 26. März 1965, BStBl 1965 III S. 435) nicht auch allgemein aus dem auch im öffentlichen Recht in bestimmten Grenzen anwendbaren Grundsatz der Erstattung einer ungerechtfertigten Bereicherung herleiten könnte.

Die Bfin. meint demgegenüber, Verfügungen des Finanzamts im Lohnsteuer-Jahresausgleich könnten grundsätzlich nicht geändert werden, weil das Verfahren mit der Erstattung endgültig abgeschlossen sei. Der Senat hat sich mehrfach - so in den Entscheidungen VI 228/59 S (a. a. O.) und VI 85/61 U (a. a. O.) - mit der Bestandskraft von Erstattungsverfügungen des Finanzamts im Lohnsteuer-Jahresausgleich befaßt und ausgesprochen, daß auch nach Abschluß des Lohnsteuer-Jahresausgleichs unter Umständen noch Steuern nachgefordert werden könnten, z. B. wenn bei einer Lohnsteuerprüfung im Betrieb des Arbeitgebers festgestellt wird, daß zu geringe Bezüge eines Arbeitnehmers dem Steuerabzug unterworfen wurden oder auch im Veranlagungsverfahren des Arbeitnehmers zur Einkommensteuer. Allerdings können die vom Finanzamt im Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren geprüften und anerkannten Posten, z. B. die Werbungskosten, Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen nur unter den erschwerten Voraussetzungen der §§ 92 Abs. 3 AO und 96 Abs. 2 AO später geändert werden. Anders ist es indessen bei Punkten, die das Finanzamt im Lohnsteuer-Jahresausgleich nicht prüfen konnte, insbesondere also, wenn es die Angaben des Arbeitgebers in der Lohnbescheinigung unbesehen hinnehmen muß. Fehler dieser Art kann das Finanzamt später berichtigen. Die änderung hat sich dann aber auf die neu aufgedeckten Punkte zu beschränken. Das Finanzamt muß die Steuernachforderung also, wenn der Arbeitgeber den Arbeitslohn unrichtig bescheinigt hat, so berechnen, als ob beim Lohnsteuer-Jahresausgleich der richtige Jahresarbeitslohn bekannt gewesen wäre. Im übrigen bleibt der abgewickelte Lohnsteuer-Jahresausgleich unverändert. Die Lohnsteuer ist also unter Zugrundelegung aller bisherigen Besteuerungsmerkmale - ausgenommen die Höhe des Arbeitslohns - zu berechnen.

Im Streitfall ist das Finanzamt auch demgemäß verfahren. Es hat demnach den zu Unrecht erstatteten Betrag mit Recht zurückgefordert.

 

Fundstellen

BStBl III 1966, 129

BFHE 1966, 358

BFHE 84, 358

StRK, AO:96 R 42

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