Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung von Prozeßhandlungen; falsches Vorverfahren

 

Leitsatz (NV)

1. Behandelt das FA einen als ,,Einspruch" bezeichneten, aber erkennbar gegen die Ablehnung einer im Steuerbescheid behandelten Billigkeitsmaßnahme gerichteten Rechtsbehelf nicht als Beschwerde, ist die gegen die Einspruchsentscheidung gerichtete Klage zulässig.

2. Hat das FG der Klage teilweise in der Sache stattgegeben, ist auf die nur vom Kläger eingelegte Revision das Urteil und die Einspruchsentscheidung im Umfang der Klageabweisung aufzuheben.

 

Normenkette

FGO § 44 Abs. 1; AO 1977 § 357 Abs. 1 S. 4, § 368 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Bremen

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt Textilhandel sowie Import und Export von Textilien. In den Jahren 1973 bis 1976 bezog sie Textilien u. a. aus der DDR.

Bei der Berechnung der Umsatzsteuer für die Streitjahre kürzte sie nach Abschn. A II der allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV) über die umsatzsteuerliche Behandlung des innerdeutschen Waren- und Dienstleistungsverkehrs zwischen den Währungsgebieten der Deutschen Mark und der Mark der Deutschen Demokratischen Republik (VwV zu § 26 Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes - UStG - 1967/1973 vom 16. Mai 1973, BStBl I 1973, 532) die Rechnungsbeträge um 11 v. H.

Bei einer Betriebsprüfung stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) fest, daß die von der Klägerin aus der DDR bezogenen Textilien vom Abnehmer im Währungsgebiet der Deutschen Mark, der Firma X ohne Be- oder Verarbeitung an eine GmbH mit Sitz in O weiterverkauft worden sind und über den weiteren Verbleib der Ware kein Nachweis vorlag. Das FA ging deshalb mit dem Betriebsprüfer davon aus, daß die erworbenen Waren nicht im Inland verblieben seien und verneinte die Voraussetzungen für die Kürzung. In Änderungsbescheiden setzte es die Umsatzsteuer daher ohne Berücksichtigung der beantragten Kürzungsbeträge fest.

Gegen die Änderungsbescheide erhob die Klägerin ,,Einspruch" und beantragte, die Steuer im Umfang der begehrten Kürzungsbeträge herabzusetzen. Das FA wies den Rechtsbehelf mit Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 1981 als unbegründet zurück.

Mit der Klage gegen die Einspruchsentscheidung verfolgte die Klägerin ihr Ziel weiter.

Das Finanzgericht (FG), dessen Entscheidung in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1983, 148 veröffentlicht ist, gab der Klage insoweit statt, als das FA den Kürzungsanspruch auch für Waren versagt hatte, die im Inland verblieben waren (Teil 3.3 des Berichts über die Prüfung des Hauptzollamts - HZA - und laufende Nr. 19 bis 21 und 29 bis 32 der Anlage zum Prüfungsbericht). Insoweit hob es die Einspruchsentscheidung und die angegriffenen Bescheide auf. Die Berechnung der Steuer überließ es gemäß Art. 3 § 4 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) dem FA. Im übrigen wies es die Klage ab.

Mit der Revision rügt die Klägerin fehlerhafte Auslegung der zu § 26 Abs. 4 UStG ergangenen VwV.

Sie beantragt, das Urteil aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist aus anderen als den geltend gemachten Gründen begründet.

1. Nach § 26 Abs. 4 UStG 1967/1973 i. d. F. des Finanzanpassungsgesetzes vom 30. August 1971 (BGBl I 1971, 1426) kann die Bundesregierung unbeschadet der Vorschrift des § 131 der Reichsabgabenordnung - AO - (jetzt § 163 der Abgabenordnung - AO 1977 -) durch VwV, die der Zustimmung des Bundesrates bedarf, die Interessen des innerdeutschen Waren- und Dienstleistungsverkehrs zwischen den beiden deutschen Währungsgebieten durch vollen oder teilweisen Steuererlaß berücksichtigen. Auf dieser Rechtsgrundlage beruht die VwV zu § 26 Abs. 4 UStG (a. a. O.). Eine derartige VwV schafft keine Rechtsnorm (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19. Juli 1984 V R 84/80, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1984, 284). Die Entscheidung über ein auf deren Bestimmungen gestütztes Begehren ist nicht Inhalt der Steuerfestsetzung und stellt deshalb keinen Steuerbescheidd i. S. des § 348 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 dar. Sie ist auch kein Verwaltungsakt im Sinne des § 348 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977. Nach der im Gesetz und in der VwV gewählten Konstruktion ist die beantragte Entscheidung einem für die Festsetzung der Steuer verbindlichen Bescheid über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO 1977 vergleichbar und gehört damit - wie diese - nicht zu den einspruchsfähigen Grundlagenbescheiden (§ 348 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977). Gegen die Ablehnung der beantragten Umsatzsteuerkürzung aufgrund der VwV zu § 26 Abs. 4 UStG war deshalb die Beschwerde, nicht der Einspruch gegeben (BFH-Urteil in UR 1984, 284).

2. Der von der Klägerin als ,,Einspruch" bezeichnete Rechtsbehelf war in eine Beschwerde umzudeuten.

Prozeßhandlungen sind nach den für Willenserklärungen geltenden Grundsätzen auslegungsfähig. Sie sind so auszulegen, daß das Ergebnis der Auslegung dem Willen und der Zielsetzung des Erklärenden bei verständiger Würdigung gerecht wird (BFH-Urteil vom 8. Februar 1974 III R 140/70, BFHE 112, 6, BStBl II 1974, 417; BFH-Beschluß vom 23. November 1978 I R 56/76, BFHE 126, 366, BStBl II 1979, 173). Aus der Begründung des Rechtsbehelfs ergibt sich, daß die Klägerin sich ausschließlich gegen die Versagung der beantragten Umsatzsteuerkürzung nach der VwV zu § 26 Abs. 4 UStG wandte und deshalb eine Beschwerde erheben wollte. Daß die Klägerin den Rechtsbehelf unrichtig als ,,Einspruch" bezeichnet hat, ist unschädlich (§ 357 Abs. 1 Satz 4 AO 1977), zumal die Rechtslage erst durch das später ergangene BFH-Urteil in UR 1984, 284 eindeutig geklärt wurde. Das FA hätte daher, wenn es dem Rechtsbehelf nicht abhelfen wollte, nicht selbst entscheiden dürfen, sondern hätte die Sache der zur Entscheidung berufenen Behörde, der Oberfinanzdirektion (OFD), vorlegen müssen (§ 368 Abs. 2 AO). Über diese anhängige Beschwerde hat die OFD bisher noch nicht entschieden.

3. Die gegen die Einspruchsentscheidung erhobene Klage hat das FG zutreffend als zulässig erachtet, ohne dies näher zu begründen.

Im Regelfall ist in Fällen, in denen ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist, die Klage nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist (§ 44 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der von der Klägerin begehrten Umsatzsteuerkürzung nach der VwV zu § 26 Abs. 4 UStG nicht vor, weil über die Beschwerde, wie ausgeführt, noch nicht entschieden ist. Die Einspruchsentscheidung des FA kann die Beschwerdeentscheidung der OFD nicht ersetzen (ständige Rechtsprechung, z. B. BFH-Urteil vom 13. Juli 1977 II R 9/77, BFHE 123, 63, BStBl II 1977, 848). Hat das FA - wie im Streitfall - rechtsfehlerhaft eine Einspruchsentscheidung erlassen, ist die Klage auch gegen die isolierte Einspruchsentscheidung zulässig (BFH-Urteile in BFHE 123, 63, BStBl II 1977, 848; vom 7. Juli 1976 I R 66/75, BFHE 119, 368, BStBl II 1976, 680).

4. Zu Unrecht hat das FG die Klage zum Teil als unbegründet abgewiesen.

Mit der Klage wandte sich die Klägerin sinngemäß gegen die zu Unrecht erlassene Einspruchsentscheidung des FA. Dabei ist davon auszugehen, daß die Klägerin im Ergebnis lediglich begehrte, die ohne sachliche Entscheidungsbefugnis ergangene Rechtsbehelfsentscheidung des FA über die versagte Umsatzsteuerkürzung aufzuheben. Daran ändert nichts, daß die Klägerin neben der Aufhebung der Einspruchsentscheidung auch eine gerichtliche Entscheidung über die nicht gewährte Umsatzsteuerkürzung nach der VwV zu § 26 Abs. 4 UStG beantragt hat. Der Antrag ist dahin zu werten, daß sie unverändert ihr sachliches Ziel deutlich machen, nicht aber zum Ausdruck bringen wollte, daß sie es im vorliegenden Verfahren und nicht - nach Aufhebung der Einspruchsentscheidung - im Beschwerdeverfahren und ggf. in einem dann anschließenden gerichtlichen Verfahren erreichen wollte (vgl. auch BFH-Urteil vom 20. November 1979 VII R 82/77, BFHE 129, 100, BStBl II 1980, 81).

Hat das FA auf eine Beschwerde - obwohl es für die ablehnende Entscheidung nicht selbst entscheidungsbefugt war (§ 368 Abs. 2 AO 1977) - eine Einspruchsentscheidung erlassen und wendet sich, wie im Streitfall, die Klägerin gegen die ablehnende Einspruchsentscheidung, so führt die Klage zur Aufhebung der rechtswidrigen Einspruchsentscheidung (Urteile in BFHE 123, 63, BStBl II 1977, 848; BFHE 119, 368, BStBl II 1976, 680, und BFHE 129, 100, BStBl II 1980, 81).

Soweit das FG die Klage als unbegründet abgewiesen hat, waren die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufzuheben.

5. Unerheblich ist, daß das FG der Klage teilweise unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung stattgegeben hat; denn hierüber ist, weil nur die Klägerin Revision eingelegt hat, im vorliegenden Revisionsverfahren nicht mehr zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Da die Klägerin nach Aufhebung des Urteils der Vorinstanz und der Einspruchsentscheidung im Umfang der Klageabweisung in vollem Umfang obsiegt hat, waren die Kosten des gesamten Verfahrens dem FA aufzuerlegen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415854

BFH/NV 1989, 184

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