Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Abgrenzung des einkommensteuerrechtlichen Begriffes "Pflegekinder" ist es nach der Änderung des § 32 Abs. 2 Nr. 2a Buchstabe aa EStG durch das StÄndG 1961 vom 13. Juli 1961 (BGBl I 1961, 981) als ausreichend anzusehen, daß solche Kinder von den Pflegeeltern "überwiegend" unterhalten werden.

2. Die im Kindergeldgesetz in der Fassung vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1957, 1061) und im Bundeskindergeldgesetz vom 14. April 1964 (BGBl I 1964, 265) enthaltenen Bestimmungen des Begriffes "Pflegekinder" sind für das Einkommensteuerrecht nicht maßgebend.

 

Normenkette

EStG 1967 § 32 Abs. 2 Nrn. 2, 3f

 

Tatbestand

Der Kläger hat im Jahre 1966 in seinen Haushalt ein Kind aufgenommen, das er als Pflegekind im Sinne des § 32 Abs. 2 Nr. 3f EStG und des § 8 Abs. 2 Nr. 6 LStDV ansieht. Seinen Antrag, auf der Lohnsteuerkarte einen Kinderfreibetrag einzutragen, lehnte das FA ab mit der Begründung, er habe das Kind von vornherein nur für eine begrenzte Zeit aufgenommen und trage auch nicht überwiegend die Kosten des Unterhalts. Die daraufhin erhobene Klage hatte Erfolg. Das FG führte im wesentlichen aus: Begriffliche Voraussetzung für ein Pflegekindschaftsverhältnis sei nach der ständigen Rechtsprechung des BFH (Entscheidung VI 99/62 S vom 14. Dezember 1962, BFH 76, 342, BStBl III 1963, 124, mit weiteren Hinweisen), daß das Kind von seinen Pflegeeltern für dauernd wie ein leibliches Kind betreut werde. Diese Voraussetzung sei auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse hier erfüllt. Der weiteren Forderung des BFH im Urteil VI 99/62 S (a. a. O.), die Kosten des Unterhalts eines Pflegekindes müßten "im wesentlichen" von den Pflegeeltern getragen werden, könne es nicht zustimmen. Nach der gesetzlichen Definition, die das Pflegekindschaftsverhältnis im § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes in der Fassung vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1957, 1061) gefunden habe, genüge es, daß die Pflegeeltern zum Unterhalt des Kindes "nicht unerheblich" beitrügen. Von diesem Begriff sei auch für die Frage auszugehen, ob nach § 8 Abs. 2 Nr. 6 LStDV ein Pflegekindschaftsverhältnis anzuerkennen sei. Denn es sei nicht erkennbar, daß der Gesetzgeber für den Begriff des Pflegekindschaftsverhältnisses beim Kindergeld andere Maßstäbe habe setzen wollen als beim Kinderfreibetrag.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung des § 8 Abs. 2 Nr. 6 LStDV. Zur Entscheidung der Frage, ob ein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne dieser Vorschrift vorliege, könnten die Legaldefinitionen des § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes in der Fassung vom 27. Juli 1957 und des § 2 Abs. 1 Nr. 6 des Bundeskindergeldgesetzes vom 14. April 1964 (BGBl I 1964, 265) nicht herangezogen werden (ebenso Oeftering-Görbing, Das gesamte Lohnsteuerrecht, 4. Aufl., § 8 Blatt 3, 2). Es sei zu bedenken, daß das Kindergeldgesetz die rechtliche Grundlage für die Tätigkeit des Staates auf dem Gebiet der gewährenden Verwaltung bilde und deshalb eine ganz andere Aufgabe habe als das eine Eingriffstätigkeit bewirkende EStG. Außerdem sei zu beachten, daß das Pflegekind im § 32 EStG dem ehelichen Kind steuerlich völlig gleichgestellt sei. Ein Pflegekindschaftsverhältnis könne deshalb nur dann angenommen werden, wenn die tatsächliche Stellung des Pflegekindes zu den Pflegeeltern die gleiche wie die des ehelichen Kindes zu seinen Eltern sei. Dies setze voraus, daß die Pflegeeltern die volle Verantwortung für den Unterhalt des Kindes übernommen hätten (Urteil des RFH VI A 1851/30 vom 26. November 1930, RStBl 1931, 275; Blümich-Falk, Einkommensteuergesetz, 9. Aufl., § 32 Anm. 3). Es müsse deshalb gefordert werden, daß die Pflegeeltern die Unterhaltskosten des Kindes mindestens überwiegend trügen. Hierfür sprächen auch die in § 32 Abs. 2 Nr. 2a aa und Buchstabe b EStG 1965 (§ 18a Abs. 1 Nr. 1a und Nr. 2 LStDV 1965) enthaltenen Regelungen, nach denen in den dort bezeichneten Fällen Kinderfreibeträge auf Antrag gewährt würden, sofern die Steuerpflichtigen ihre Kinder "überwiegend" unterhielten. Auch im Schrifttum werde, soweit ersichtlich, einheitlich die Auffassung vertreten, daß ein Pflegekindschaftsverhältnis nur dann angenommen werden könne, wenn die Pflegeeltern die Unterhaltskosten des Kindes überwiegend trügen (Littmann, Das Einkommensteuerrecht, 8. Aufl., § 32 Tz. 36; Blümich-Falk, a. a. O., § 32 Anm. 3; Herrmann-Heuer, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, 11. Aufl., § 32 EStG Anm. 16; Hartmann-Böttcher-Grass, Großkommentar zur Einkommensteuer, § 32 Anm. 4 f). Der BFH habe ein Pflegekindschaftsverhältnis sogar davon abhängig gemacht, daß die Pflegeeltern die Kosten des Unterhalts des Pflegekindes "im wesentlichen" trügen (Urteil VI 99/62 S, a. a. O.). Es sei allerdings zu berücksichtigen, daß diese Entscheidung für ein Streitjahr ergangen sei, in dem die Gewährung des Kinderfreibetrages auf Antrag u. a. davon abhängig gewesen sei, daß die Kinder "im wesentlichen" auf Kosten des Arbeitnehmers unterhalten würden (vgl. § 32 Abs. 2 Nr. 2 EStG 1958). Demnach könne dem Kläger im Streitfall der Kinderfreibetrag nicht gewährt werden, weil er die Unterhaltskosten seines Pflegekindes nicht überwiegend getragen habe.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist begründet.

Der Gesetzgeber hat bereits im § 17 Abs. 2 EStG vom 29. März 1920 (RGBl I 1920, 359) bestimmt, daß als Kinder im Sinne der vorausgegangenen Zusammenrechnungsvorschrift neben den Abkömmlingen des Haushaltsvorstandes auch Stief-, Schwieger-, Adoptiv- und Pflegekinder sowie deren Abkömmlinge gelten. Die gleiche Bestimmung enhält der § 23 Abs. 2 EStG vom 10. August 1925 (RGBl I 1925, 189). Zu dieser Vorschrift hat der RFH in den Urteilen VI A 2092/29 vom 22. Januar 1930 (RStBl 1930, 194) und VI A 1851/30 vom 26. November 1930 (a. a. O.) ausgeführt: Für die Frage, ob Pflegekindschaft im Sinne des Einkommensteuerrechts anzunehmen sei, komme die auf anderer Grundlage und für andere Zwekke gegebene Begriffsbestimmung des Jugendwohlfahrtgesetzes nicht in Betracht. Wie zu den Bestimmungen der §§ 52 Abs. 2 und 174 Nr. 1 StGB sei auch zum Einkommensteuerrecht mangels allgemeiner reichsgesetzlicher Umgrenzung der Begriffe Pflegeeltern und Pflegekinder bei der Prüfung, was hier gemeint sei, von der allgemeinen Lebensauffassung auszugehen und zu berücksichtigen, daß in den von dem Gesetz betonten Richtungen Kinder und Pflegekinder gleichgestellt seien, also ein Pflegekindschaftsverhältnis dann anzunehmen sei, wenn die Stellung des übernommenen Kindes und des natürlichen oder ehelichen Kindes in den hier jeweils wesentlichen Punkten gleichartig sei. Pflegekindschaft im Sinne des EStG liege demnach nur vor, wenn ein Steuerpflichtiger eine Person in der Absicht, für sie durch Gewährung vollen Unterhalts und angemessener Erziehung wie für ein eigenes Kind zu sorgen, in seinen Haushalt aufnehme, ohne Rücksicht darauf, ob Zuschüsse von dritter Seite gewährt würden oder nicht.

Seit dem EStG vom 16. Oktober 1934 (RGBl I 1934, 1005) findet sich eine dem früheren § 23 Abs. 2 entsprechende, die Pflegekinder den ehelichen Kindern gleichstellende Regelung im Rahmen der Kinderermäßigungsvorschriften des § 32. Diese machten bis zu ihrer Änderung durch das Gesetz vom 18. Juli 1958 (BGBl I 1958, 473) die Gewährung der Kinderermäßigung für Kinder über 18 Jahre, die im Veranlagungszeitraum mindestens vier Monate das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, davon abhängig, daß sie während dieser Zeit auf Kosten des Steuerpflichtigen unterhalten und für einen Beruf ausgebildet worden sind. Im Einklang damit hielt der RFH im Urteil VI A 101/36 vom 11. März 1936 (RStBl 1936, 695) an seiner bisherigen Forderung fest, daß ein Pflegekindschaftsverhältnis begrifflich die Gewährung vollen Unterhalts voraussetze. Die Voraussetzung der Unterhaltsgewährung wurde durch das Änderungsgesetz vom 18. Juli 1958 dahin gemildert, daß das Kind "im wesentlichen" auf Kosten des Steuerpflichtigen unterhalten sein muß. Für den Begriff der Pflegekindschaft trug der BFH dieser Änderung im Urteil VI 99/62 S (a. a. O.) dadurch Rechnung, daß er nunmehr abweichend vom RFH genügen ließ, daß das Kind von den Pflegeeltern "im wesentlichen" unterhalten worden ist.

Eine weitere Milderung in bezug auf das Maß der Unterhaltsgewährung ist schließlich eingetreten durch das StÄndG 1961 (BGBl I 1961, 981), das im § 32 Abs. 2 Nr. 2a aa EStG die Worte "im wesentlichen" durch das Wort "überwiegend" ersetzt hat. Entsprechend der bisherigen Rechtsprechung ist daher nunmehr bei der Abgrenzung des einkommensteuerrechtlichen Begriffes "Pflegekinder" als ausreichend anzusehen, daß solche Kinder von den Pflegeeltern "überwiegend" unterhalten worden sind.

Der Gesetzgeber hatte nicht die Absicht, den seit 1920 im EStG enthaltenen Begriff "Pflegekinder" mit Wirkung für das Einkommensteuerrecht durch das Kindergeldgesetz zu ändern. Er hat vielmehr schon im § 2 Abs. 1 der ursprünglichen Fassung des Kindergeldgesetzes vom 13. November 1954 (BGBl I 1954, 333) den Willen bekundet, für den Bereich dieses Gesetzes einen besonderen Begriff des "Pflegekindes" zu schaffen. Denn dort hat er den Begriff über den ausdrücklich erwähnten Rahmen des § 32 Abs. 4 Nr. 4f EStG hinaus ausgedehnt auf elternlose Kinder, die von Großeltern oder Geschwistern versorgt werden. Im Art. 1 Nr. 1c des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften des Kindergeldgesetzes vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1957, 1061) hat der Gesetzgeber die bisherige, im Kern noch an das EStG angelehnte Begriffsbestimmung ersetzt durch eine völlig eigenständige neue Bestimmung. Auch die im § 2 Abs. 1 Nr. 6 des Bundeskindergeldgesetzes vom 14. April 1964 (BGBl I 1964, 265) enthaltene Begriffsbestimmung der "Pflegekinder" ist von den Bestimmungen des EStG ganz losgelöst.

Es ergibt sich somit schon aus der Entwicklung der Gesetzgebung, daß die im Kindergeldgesetz in der Fassung vom 27. Juli 1957 und im Bundeskindergeldgesetz vom 14. April 1964 enthaltenen Bestimmungen des Begriffes "Pflegekind" für das Einkommensteuerrecht nicht maßgebend sind. Im übrigen gilt auch für die Gesetze über das Kindergeld die schon vom RFH in den Urteilen VI A 2092/29 und VI A 1851/30 (a. a. O.) in bezug auf das Jugendwohlfahrtgesetz getroffene Feststellung, daß sie anderen Zwecken dienen als das EStG und daher ihre Begriffsbestimmungen für dieses keine Geltung beanspruchen können.

Das Urteil des FG beruht somit auf einem Rechtsirrtum und muß aufgehoben werden. Die Sache ist nicht entscheidungsreif, weil das FG von seinem Standpunkt aus keinen Anlaß hatte festzustellen, ob der Kläger das Kind "überwiegend" auf seine Kosten unterhalten hat, diese Feststellung aber wie dargestellt entscheidend ist. Die Sache ist deshalb an das FG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 69137

BStBl II 1970, 782

BFHE 1971, 86

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