Entscheidungsstichwort (Thema)

Sonstiges Umsatzsteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 31 BVerfGG gilt, soweit Bundesrecht in Betracht kommt, auch in sogenannten "Berliner Sachen".

Besteht Umsatzsteuerfreiheit nach mehreren Vorschriften, so ist es grundsätzlich nicht möglich, außer der Nichtheranziehung der steuerfreien Umsätze zur Umsatzsteuer zusätzlich den steuerfreien Umsatzbetrag von den steuerpflichtigen Umsätzen abzusetzen.

GG Art 23, 127; BVerfGG § 31; UStG 1934 §§ 8, 18; UStG 1951 § 18 Abs. 1; UStDB 1938 § 54 Abs.

 

Normenkette

GG Art. 23, 127; BVerfGG § 31; UStG §§ 8, 18

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige - Stpfl. -) betreibt eine Tuchfabrik, die Tuche aus selbstgesponnenen Garnen herstellt. Sie wurde für die Veranlagungszeiträume 1953 und 1955 bis 1958, um die es sich im Streitfall handelt, neben der allgemeinen Umsatzsteuer gemäß § 7 UStG zur Spinnweberzusatzsteuer gemäß § 59 Abs. 1 UStDB 1951 herangezogen. Außerdem wurde das Anrechnungsverfahren nach § 60 UStDB 1951 angewendet.

Der gegen die Zusatzbesteuerung gerichtete Einspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen hatte die Stpfl. im Verfahren vor dem Finanzgericht (FG) Erfolg. Das FG schloß sich der Auffassung des Senats an, daß die §§ 59 bis 62 UStDB 1951 über die Zusatzsteuer in der Textilwirtschaft nachkonstitutionelles Recht darstellten und wegen der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch Urteil 2 BvL 18/56 vom 5. März 1958 (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - Bd. 7 S. 282) festgestellten Ungültigkeit der Ermächtigungsvorschriften der §§ 8 und 18 Abs. 1 Ziff. 1 UStG 1951 nichtig seien (vgl. Urteile des BFH V 226/57 S vom 22. Oktober 1959, BStBl 1959 III S. 441, Slg. Bd. 69 S. 486; V 231/54 S vom 7. April 1960, BStBl 1960 III S. 339, Slg. Bd. 71 S. 244; V 85/60 U vom 9. Februar 1961, BStBl 1961 III S. 114, Slg. Bd. 72 S. 307). Das FG kam zu einer um die Spinnweberzusatzsteuer (gekürzt um die Anrechnungsbeträge) niedrigeren Umsatzsteuer. Für den Veranlagungszeitraum 1953 erhöhte es die Umsatzsteuer um einen geringfügigen Betrag, der mit der Zusatzsteuer nichts zu tun hat und der dem Grunde und der Höhe nach unstreitig ist.

In der Rb., die nach Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandeln ist, vertritt der Revisionskläger (Finanzamt - FA -) unter Bezugnahme auf die Normenkontrollklage der Bundesregierung vom 20. April 1960 betreffend die Rechtsgültigkeit des § 59 Abs. 1 UStDB 1951 entgegen der Auffassung des Senats in seinen o. a. Urteilen den Standpunkt, daß die genannte Vorschrift auf den Ermächtigungen in den §§ 8 und 18 UStG 1934 beruhe und daher als vorkonstitutionelles Recht gültig sei. Nachdem das BVerfG inzwischen durch Beschluß 2 BvF 1/60 vom 16. Mai 1961 (BVerfGE Bd. 12 S. 341, BStBl 1961 I S. 432) entschieden hat, daß die strittige Vorschrift mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist, stützt das FA sein Rechtsbeschwerdebegehren auf diesen Beschluß.

In ihrer Stellungnahme zur Revision bezieht sich die Stpfl. auf den Aufsatz von Dr. Dr. Hillebrecht in der Zeitschrift "Der Betriebs-Berater" 1960 S. 1032 und auf zwei von ihr in Abschrift (auszugsweise) überreichte Stellungnahmen der Arbeitsgemeinschaft gegen die Spinnweberzusatzsteuer e. V. zu derselben Frage. Sie hebt besonders hervor, die Vorschriften über die Textilzusatzsteuer bildeten eine geschlossene Einheit, der Gesetzgeber habe die nichtigen Ermächtigungsnormen des § 8 und des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 UStG in seinen Willen aufgenommen und der Verordnungsgeber habe die §§ 59 ff. UStDB 1951 auf diese Ermächtigungsnormen gestützt; die §§ 59 ff. UStDB 1951 seien daher nachkonstitutionelles Verordnungsrecht; die alte (geänderte) Rechtsnorm sei nicht wieder aufgelebt. Mindestens ab 1. April 1958 könne trotz des Beschlusses des BVerfG 2 BvF 1/60 vom 16. Mai 1961 (a. a. O.) die Spinnweberzusatzsteuer nicht mehr als rechtswirksam angesehen werden.

Die Stpfl. vertritt ferner die Auffassung, der BFH sei an die Entscheidung des BVerfG 2 BvF 1/60 vom 16. Mai 1961 (a. a. O.) nicht gebunden, weil es sich im Streitfalle um eine sogenannte "Berliner Sache" handele. Die Anwendung des GG unterliege auf Grund des Vorbehalts der Alliierten für das Land Berlin gewissen Beschränkungen; auch das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) habe trotz seines § 106 für Berlin nicht übernommen werden können. Infolgedessen sei das BVerfG für Berlin insoweit nicht zuständig, als es als Verfassungsorgan des Bundes Regierungsfunktionen ausübe. Demgemäß habe das BVerfG entschieden, daß es derzeit nicht zuständig sei, auf die Vorlage eines Gerichts im Rahmen der konkreten Normenkontrolle die Vereinbarkeit von Berliner Gesetzen mit dem GG zu überprüfen (Beschluß des BVerfG 2 BvL 6/56 vom 21. Mai 1957, BVerfGE Bd. 7 S. 1 oder über die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil eines oberen Bundesgerichts in einer "Berliner Sache" zu entscheiden, wenn sich seine Entscheidung über das angegriffene Urteil hinaus unmittelbar oder mittelbar auf Akte der Berliner Staatsgewalt, d. h. der Berliner Behörden und Gerichte auswirken müßte (Beschluß des BVerfG 1 BvR 469/52 vom 2. Dezember 1959, BVerfGE Bd. 10 S. 229; siehe auch Beschluß des BFH I 149/60 U vom 22. Januar 1963, BStBl 1963 III S. 189, Slg. Bd. 76 S. 517). § 54 Abs. 1 UStDB 1938 bzw. § 59 Abs. 1 UStDB 1951 sei durch die übernahme des Berliner Gesetzgebers Berliner Recht geworden. Wenn es aber dem BVerfG versagt sei, im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens über die Vereinbarkeit von Berliner Recht mit dem GG zu entscheiden, so müsse Entsprechendes auch für das abstrakte Normenkontrollverfahren gelten. Die Ausdehnung des Beschlusses des BVerfG 2 BvF 1/60 vom 16. Mai 1961 (a. a. O.) auf das Land Berlin würde einen Eingriff in die rechtsprechende Gewalt der Berliner Gerichte und damit einen unzulässigen Akt mittelbaren Regierens im Land Berlin bedeuten. Der BFH sei daher - ebensowenig wie die Berliner Gerichte - gehindert, abweichend vom BVerfG wie in seinen früheren einschlägigen Urteilen die Rechtsgültigkeit der Spinnweberzusatzsteuer zu verneinen.

Außerdem macht die Stpfl. geltend, sie habe mit dem FA eine Sondervereinbarung dahin getroffen, daß die zu erwartende Grundsatzentscheidung des BFH betreffend die Rechtsgültigkeit der Spinnweberzusatzsteuer für den Streitfall verbindlich sein solle. Ohne die daraufhin erfolgte Aussetzung des Verfahrens hätte sie nach dem Gang der Dinge vor dem Ergehen des Beschlusses des BVerfG 2 BvF 1/60 vom 16. Mai 1961 (a. a. O.) beim BFH ein obsiegendes Urteil erstritten. Es verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, daß sich das FA an die getroffene Vereinbarung nicht gehalten habe.

Schließlich beanstandet die Stpfl. daß ihr für die umsatzsteuerfreien Lieferungen an die ausländischen Streitkräfte nicht noch zusätzlich die Vergünstigungen nach § 7 Des Berlinhilfegesetzes (BHG) gewährt worden seien. Die Steuerfreiheit nach dieser Vorschrift habe nicht zur Voraussetzung, daß die Lieferung umsatzsteuerpflichtig sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

...

Die Auffassung der Stpfl., daß im Streitfalle die Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG nicht bestehe, weil es sich um eine "Berliner Sache" handele, trifft nicht zu. § 54 Abs. 1 UStDB 1938 bzw. § 59 Abs. 1 UStDB 1951 ist Bundesrecht, das auf Grund des Gesetzes über die Stellung des Landes Berlin im Finanzsystem des Bundes (Drittes überleitungsgesetz) vom 4. Januar 1952 (BGBl 1952 I S. 1) vom Land Berlin übernommen worden ist. Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Das GG gilt in und für Berlin, soweit nicht aus der Besatzungszeit stammende und noch heute aufrechterhaltene Maßnahmen der Drei Mächte seine Anwendung beschränken (vgl. Art. 23 und 127 GG sowie Beschluß des BVerfG 2 BvL 6/56 vom 21. Mai 1957, BVerfGE Bd. 7 S. 1, insbesondere S. 7 und 12 ff.). Aus der Anordnung der Alliierten Hohen Kommission vom 17. Januar 1952 (Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission vom 25. Januar 1952 S. 1468), durch die einzelne Worte und Bestimmungen des Dritten überleitungsgesetzes außer Kraft gesetzt wurden, kann - entgegen der Auffassung der Stpfl. - nicht gefolgert werden, daß das UStG und die dazu ergangenen Durchführungsbestimmungen durch die übernahme für Berlin dortiges Landesrecht geworden sind. Das Verlangen der Alliierten, daß Bundesgesetze erst nach einem besonderen übernahmeakt in Berlin angewendet werden dürfen, hat nicht zur Folge, daß die Bundesgesetze deswegen ihre rechtliche Eigenschaft ändern. Es soll dadurch lediglich Bundesrecht, und zwar mit dem Range von Bundesrecht, in Berlin Geltung verschafft werden.

Der Vorbehalt der Alliierten bezweckt, die völlige organisatorische Eingliederung Berlins in die Bundesrepublik zunächst nicht zuzulassen, um die Entscheidungsfreiheit der westlichen Alliierten bei der Ausübung ihrer besatzungsrechtlichen Befugnisse über Berlin zu sichern. Er beinhaltet ein kurz formuliertes prinzipielles Verbot politisch bedeutsamer Einwirkung der Bundesrepublik auf die Berliner Landesgewalt (Beschluß des BVerfG 1 BvR 469/52 vom 2. Dezember 1959, a. a. O., insbesondere S. 232). Die Zuständigkeit des BVerfG erstreckt sich daher nicht auf die Frage der Rechtsgültigkeit Berliner Landesgesetze (Beschluß des BVerfG vom 2. Dezember 1959, a. a. O.). Die Entscheidungsbefugnis des BVerfG über Akte der öffentlichen Gewalt des Bundes ist dagegen nicht eingeschränkt, auch insoweit nicht, als sie Bundesrecht betreffen, das im Wege der sogenannten Mantelgesetzgebung nach Berlin übernommen worden ist. Eine Kontrolle des Berliner Landesgesetzgebers oder ein "Regieren" in Sachen des Landes Berlin findet dadurch nicht statt, weil der Verwaltungsakt, wenn er auch von einer West-Berliner Behörde, nämlich einem FA in Berlin (West), erlassen wird, Bundesrecht betrifft.

Soweit Zweifel an der Richtigkeit dieses Ergebnisses auf Grund der von der Stpfl. angeführten älteren Rechtsprechung des BVerfG noch bestehen konnten, sind sie durch den Beschluß des BVerfG 1 BvR 140/62 vom 20. Januar 1966 beseitigt worden. Das BVerfG hat seine früheren Erwägungen - wie es selbst ausführt - "modifiziert". Es kommt in seinem neuen Beschluß u. a. zu der folgenden Feststellung: "Soweit das Bundesverfassungsgericht eine Gesetzesbestimmung für nichtig oder für gültig erklärt hat, hat seine Entscheidung nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft. Aber auch in anderen Fällen entfallen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG eine über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung, insofern die sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen der Entscheidung ergebenden Grundsätze für die Auslegung der Verfassung von den Gerichten und Behörden in allen künftigen Fällen beachtet werden müssen. Danach versteht es sich von selbst, daß Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit oder verfassungskonforme Auslegung einer Norm des Bundesrechts, die in einem keine "Berliner Sache" betreffenden Verfahren ergangen sind, vom Bundesgerichtshof auch bei der Revisionsentscheidung über eine "Berliner Sache" berücksichtigt werden. Ist aber eine solche Auswirkung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die Behandlung einer "Berliner Sache" zulässig, so kann es keinen Unterschied machen, ob die betreffenden verfassungsrechtlichen Grundsätze schon in einem früheren Verfahren vom Bundesverfassungsgericht entwickelt worden sind oder ob erst die Verfassungsbeschwerde in der anhängigen "Berliner Sache" dazu den Anstoß gegeben hat." Diese Ausführungen, die in einer Sache betreffend das Bundesentschädigungsgesetz gemacht worden sind, müssen entsprechend für die Entscheidungen des BFH in Umsatzsteuersachen gelten. Durch den Beschluß des BVerfG 1 BvR 140/62 vom 20. Januar 1966 (a. a. O.) ist mithin klargestellt, daß der Beschluß des BVerfG 2 BvF 1/60 vom 16. Mai 1961 (a. a. O.) über die Rechtsgültigkeit der Spinnweberzusatzsteuer den Senat gemäß § 31 BVerfGG auch in den sogenannten "Berliner Sachen" bindet.

...

Die Rüge der Stpfl., es hätte ihr für die Lieferungen an die Besatzungsmächte zweimal Umsatzsteuerfreiheit gewährt werden müssen, nämlich außer nach § 7 BHG alter Fassung zusätzlich nach den Vorschriften der Besatzungsmächte (insbesondere nach dem Truppenvertrag bzw. nach dem Zusatzabkommen vom 3. August 1959 zum NATO-Truppenstatut), ist unbegründet. Der Truppenvertrag und die dazu ergangenen Nebenbestimmungen gelten nicht im Lande Berlin. Ihre Anwendung scheidet daher schon aus diesem Grunde aus. Darüber hinaus können Umsätze immer nur steuerpflichtig oder steuerfrei sein. Besteht Steuerfreiheit nach mehreren Vorschriften, so ist es nicht möglich, außer der Nichtheranziehung der steuerfreien Umsätze zur Umsatzsteuer zusätzlich den steuerfreien Umsatzbetrag von den steuerpflichtigen Umsätzen abzusetzen, sofern dies nicht ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist. § 3 BHG alter Fassung ist eine Vorschrift besonderer Art. Die Kürzung der Umsatzsteuer nach dieser Vorschrift ist nicht davon abhängig, daß die Lieferung des Westberliner Unternehmens an den Unternehmer im Bundesgebiet umsatzsteuerpflichtig war. Der Kürzungsanspruch besteht auch, wenn der Unternehmer im Bundesgebiet den Gegenstand (z. B. als Ausfuhrlieferung) steuerfrei weiterliefert oder sogar Umsatzsteuervergütungen gemäß § 16 UStG erhält. Eine solche Sondervorschrift besteht für die Lieferung in Berlin (West) hergestellter Gegenstände an die Besatzungsmächte nicht.

Auf die Revision des FA war daher die Vorentscheidung aufzuheben. Unter änderung der Einspruchsentscheidung und des Umsatzsteuerbescheids war die Umsatzsteuer für den Veranlagungszeitraum 1953 gemäß den Anträgen des FA festzusetzen. Im übrigen war die Klage (Berufung) der Stpfl. gegen die Einspruchsentscheidungen abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412079

BStBl III 1966, 404

BFHE 1966, 94

BFHE 86, 94

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