Entscheidungsstichwort (Thema)

Schätzungsbefugnis des Finanzgerichts; Nachlaßwert einer Zahnarztpraxis

 

Leitsatz (NV)

1. Das Finanzgericht ist nicht darauf beschränkt, die Schätzung des Finanzamts zu überprüfen, sondern ist berechtigt und ggf. verpflichtet, von seiner eigenen Schätzungsbefugnis Gebrauch zu machen.

2. Die Schätzungsbefugnis des Finanzgerichts ist zu bejahen, wenn der Steuerpflichtige die ihm obliegende Auskunfts- und Mitwirkungspflicht verweigert hat, insbesondere seiner Verpflichtung zur Abgabe der Erbschaftsteuererklärung nicht nachgekommen ist.

3. Bei der Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis hat das Finanzgericht alle nach den Umständen des Falles relevanten Tatsachen zu ermitteln. Es darf von einer eigenen Sachverhaltsaufklärung nicht schon dann absehen, wenn der Steuerpflichtige im Verwaltungsverfahren unzulängliche Auskünfte gegeben hat, sondern erst, wenn er nach entsprechender Aufforderung seiner prozessualen Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist.

4. Für die Ermittlung des Nachlaßwertes einer Zahnarztpraxis darf nicht von einem vom Erblasser erzielten Gewinn ausgegangen werden, weil damit auch die über den Substanzwert hinausgehende Gewinnaussicht erfaßt würde; der nach § 96 Abs. 1 i.V.m. § 95 Abs. 1 BewG anzusetzende Wert erfaßt nur den Substanzwert.

 

Normenkette

AO 1977 § 149 Abs. 1, § 162 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; FGO §§ 76, 90 Abs. 1, § 96 Abs. 1 S. 1; ErbStG 1974 § 10 Abs. 1 S. 2, §§ 12, 31 Abs. 1 S. 1; BewG 1965 § 95 Abs. 1, § 96 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Alleinerbin nach ihrem am ... verstorbenen Ehemann; dieser hatte eine Zahnarztpraxis betrieben. Die Klägerin gab keine Erbschaftsteuererklärung ab. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) schätzte daraufhin den steuerpflichtigen Erwerb, wobei er ihm bekanntgewordene Nachlaßwerte (Grundvermögen, Sparguthaben, Wertpapiere, Lebensversicherungen) im Gesamtwert von 143418 DM ansetzte und diesen Betrag ohne weitere Begründung auf 300000 DM aufrundete. Mit dem Einspruch legte der nunmehrige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin lediglich eine Kopie der für das Nachlaßgericht gefertigten Aufstellung über den Nachlaß vor; er weigerte sich weiterhin, eine Steuererklärung einzureichen. Den Einspruch wies das FA ab. Auch die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) befand, daß das FA alle Umstände berücksichtigt habe, die für die Schätzung von Bedeutung seien. Da die Klägerin dem FA keine Vermögensaufstellung auf den (Todestag) ... zur Ermittlung des Einheitswertes des Betriebsvermögens des Erblassers abgegeben, sondern sich mit der pauschalen Angabe des Wertes mit 25000 DM begnügt habe, habe das FA den Wert der Zahnarztpraxis auf der Grundlage eines dem Verkehrswert angenäherten Wertes schätzen können. Der Verkehrswert bemesse sich in der Regel nach dem zu erzielenden Verkaufserlös, der sich erfahrungsgemäß zwischen dem ein- bis dreifachen Jahresgewinn belaufe. Da der Erblasser im Kalenderjahr ... Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit von 155483 DM erzielt habe, erscheine der von der Klägerin angegebene Wert von 25000 DM unrealistisch und der vom FA zugrunde gelegte Wert von rd. 156000 DM der wahrscheinlichere.

Mit der vom erkennenden Senat auf die Beschwerde der Klägerin hin zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung von § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO), § 12 Abs. 5 des Erbschaftsteuergesetzes (ErbStG) 1974.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG.

1. Das Urteil des FG ist aufzuheben. Es verletzt § 10 Abs. 1 Satz 2, § 12 ErbStG 1974 i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO, § 162 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977).

Dabei geht der erkennende Senat davon aus, daß das FG entgegen der Formulierung der Entscheidungsgründe nicht lediglich die Schätzung des FA überprüft hat, sondern seine eigene Schätzungsbefugnis aus § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 AO 1977 ausgeübt hat, denn es trifft nicht zu, daß das FA der Zuschätzung von 156000 DM den Wert der Zahnarztpraxis zugrunde gelegt hat. Das FA hat vielmehr griffweise die ihm bekannten Nachlaßwerte um einen Sicherheitszuschlag von rd. 100% mit der Begründung erhöht, daß im Testament vom 15. April 1972 der Erblasser sein Vermögen mit 160000 DM angegeben habe, daß das Praxisvermögen hierin noch nicht enthalten gewesen sei und daß in den Fällen, in denen der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflicht durch Nichtabgabe der Erklärung ohne erkennbare Gründe verweigere, anzunehmen sei, daß er etwas zu verbergen habe. Irgendwelche tatsächlichen Anhaltspunkte legte das FA seiner Schätzung nicht zugrunde. Danach war das FG nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht (§ 76 FGO) von seiner eigenen Schätzungsbefugnis (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 162 AO 1977) Gebrauch zu machen, denn die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen durch das FA entsprach nicht, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt, den an eine Schätzung zu stellenden Anforderungen.

a) Zutreffend hat das FG zwar die Schätzungsbefugnis aus § 162 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 AO 1977 bejaht. Denn die Klägerin hat die ihr obliegende Auskunfts- und Mitwirkungspflicht verweigert und ist insbesondere ihrer Verpflichtung zur Abgabe der Erbschaftsteuererklärung (§ 149 Abs. 1 AO 1977, § 31 Abs. 1 Satz 1 ErbStG 1974) nicht nachgekommen. Die von der Klägerin zur Rechtfertigung ihrer Weigerung genannten Gründe greifen nicht durch, denn das FA war gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 ErbStG berechtigt, von der Klägerin als einer an dem Erbfall beteiligten Person, die Abgabe einer Steuererklärung zu fordern (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17. Februar 1993 II R 83/90, BFHE 170, 305, BStBl II 1993, 580).

b) Die Vorentscheidung hält jedoch der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand, weil das Schätzungsergebnis rechtsfehlerhaft zustande gekommen ist. Die Feststellungen des FG reichen als Grundlage für eine Schätzung nicht aus.

Die Schätzung ist ein Verfahren, Besteuerungsgrundlagen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, wenn eine sichere Feststellung trotz des Bemühens um Aufklärung nicht möglich ist. Dabei sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für ein solches Verfahren von Bedeutung sein können. Auszugehen ist von dem aufgeklärten Sachverhalt. Es bedarf weiterhin der Feststellung, daß eine weitere Sachaufklärung nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Erst in diesem Stadium setzen die Schätzungsüberlegungen ein, die aus dem festgestellten Sachverhalt folgern, daß die Besteuerungsgrundlagen in einer wahrscheinlichen Höhe verwirklicht worden sind (ständige Rechtsprechung, BFH-Urteil vom 18. Dezember 1984 VIII R 195/82, BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226).

Entgegen diesen Grundsätzen hat das FG den Sachverhalt nicht aufgeklärt. Die Heranziehung der Einkünfte des Erblassers für die Ermittlung des Praxiswerts genügt hierfür nicht, zumal diese, wie sich aus den Ausführungen zu 2. ergibt, hierfür nicht geeignet sind. Das FG hätte sich bemühen müssen, alle nach den Umständen des Falles für die Ermittlung des steuerpflichtigen Erwerbers relevanten Lebenssachverhalte, insbesondere also den vom FA nicht näher bezifferten Wert weiterer Nachlaßgegenstände (Sterbegelder, Bargeld, Bankguthaben, Schmuck) und die Höhe der Schulden und der geltend gemachten Pflichtteilsansprüche festzustellen. Da das FG seine eigene Schätzungsbefugnis ausübte, durfte es von einer eigenen Sachverhaltsaufklärung auch nicht deshalb absehen, weil die Klägerin, wenn auch unter Verletzung der ihr obliegenden Mitwirkungspflicht (§ 90 Abs. 1 AO 1977), im Verwaltungsverfahren nur unzulängliche Auskünfte gegeben hatte. Das FG hätte von einer weiteren Sachaufklärung erst dann absehen dürfen, wenn die Klägerin nach einer entsprechenden Aufforderung des FG (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO) ihrer prozessualen Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen wäre.

2. Die nicht spruchreife Sache wird an das FG zurückverwiesen. Für die erneute Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, daß sich die Bewertung des steuerpflichtigen Erwerbs nach § 12 ErbStG 1974 richtet und daß dies auch für die Ermittlung der Werte des Nachlasses im Wege der Schätzung gilt. Für die Bewertung des Betriebsvermögens des vom Erblasser ausgeübten freien Berufs als Zahnarzt folgt daraus, daß das FG zu Unrecht für die Ermittlung dieses Wertes von einem vom Erblasser erzielten Gewinn ausgegangen ist; damit hat das FG auch den Praxiswert im Sinne eines Geschäftswertes in die Schätzung einbezogen, denn der Praxiswert erfaßt die über den Substanzwert hinausgehende Gewinnaussicht. Zutreffend hat die Klägerin aber darauf hingewiesen, daß der nach § 96 Abs. 1 i.V.m. § 95 Abs. 1 des Bewertungsgesetzes (BewG) 1965 anzusetzende Wert nur den Substanzwert umfaßt und daß der Praxiswert nach den Grundsätzen der Einzelbewertung nur angesetzt werden darf, wenn er als bewertbares Wirtschaftsgut vorhanden war (vgl. BFH-Urteil vom 17. Januar 1975 III R 69/73, BFHE 114, 543, BStBl II 1975, 324).

3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Bei dieser wird das FG ggf. § 137 FGO in Erwägung zu ziehen haben.

 

Fundstellen

BFH/NV 1994, 176

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