Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Beamten der Veranlagungsdienststelle brauchen den Inhalt der Einheitswertakten in der Regel nicht zu kennen. Im Hinblick auf den Wortlaut des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AO, nach dem es auf das "Bekanntwerden" neuer Tatsachen ankommt, sind an die Aufklärungspflicht der Veranlagungsbeamten keine zu strengen Anforderungen zu stellen.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1
Gründe
Aus den Gründen
Die Einwendungen der Bfinnen. gegen die Zulässigkeit der vom Finanzamt vorgenommenen Berichtigungsveranlagung für 1957 sind nicht begründet. Auf Grund der Zustimmung des K. nach § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO hätte das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 1957 zwar nur durch Erhöhung des Gewinns aus Gewerbebetrieb um 26.000 DM ändern dürfen. Da ihm aber im Zeitpunkt der ersten Veranlagung die Aufgabe des Betriebs im Jahre 1957 nicht bekannt war, war eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO gerechtfertigt. Daß der Bescheid die Aufschrift "Berichtigung § 94 AO" trägt, ist zwar unrichtig, aber unschädlich. Denn es würde einen nicht zu rechtfertigenden Formalismus bedeuten, wollte man den Berichtigungsbescheid aus diesem Grund aufheben, gleichzeitig aber das Recht des Finanzamts bejahen, einen neuen Berichtigungsbescheid nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO zu erlassen (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs III 165/57 U vom 18. April 1958, BStBl 1958 III S. 250, Slg. Bd. 66 S. 654, und IV 350/61 U vom 30. Juli 1964, BStBl 1964 III S. 513, Slg. Bd. 80 S. 111).
Das Finanzgericht nahm zu Recht an, daß die Betriebsaufgabe durch K. im Jahre 1957 für das Finanzamt eine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO war. Denn nach den Mitteilungen des früheren Bevollmächtigten des K. und des Gewerbeamts mußte das Finanzamt annehmen, K. habe seinen Betrieb erst 1958 aufgegeben, zumal auch in den Steuererklärungen 1957 nichts auf eine Betriebsaufgabe hindeutet. Daran ändert nichts, daß K. dem Finanzamt in der Einkommensteuererklärung 1957 die Anschaffung eines anderen Grundstücks für 190.000 DM mitteilte, weil ein Zusammenhang dieses Grundstückskaufs mit der Betriebsaufgabe für das Finanzamt nicht erkennbar war. Die ihm obliegende Aufklärungspflicht (§§ 204 und 205 AO) zwingt das Finanzamt nicht dazu, die Steuererklärungen und Anlagen argwöhnisch in jeder Hinsicht zu prüfen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs VI 288/63 U vom 30. Juli 1965, BStBl 1965 III S. 613). Der Annahme, daß es sich bei der Betriebsaufgabe für das Finanzamt um eine neue Tatsache handelte, steht nicht entgegen, daß sich der Kaufvertrag über das zum Teil eigengewerblich genutzte Grundstück zwischen K. und der Stadt X seit Juli 1957 bei den Einheitswertakten des Finanzamts befand. Denn den Inhalt der Einheitswertakten brauchen die Beamten der Veranlagungsdienststelle in der Regel nicht zu kennen (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs V 166/59 U vom 6. September 1962, BStBl 1962 III S. 494, Slg. Bd. 75 S. 623, und VI 288/63 U). Sollte sich aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs I 69/63 U vom 7. September 1965 (BStBl 1965 III S. 677) die Auffassung ergeben, daß in jedem Fall die für die Veranlagung der Einkommensteuer zuständigen Beamten verpflichtet seien, die bei den Veranlagungsakten befindlichen Einheitswert- und Veräußerungsmitteilungen auch dann beizuziehen und zu berücksichtigen, wenn die Erklärungen des Steuerpflichtigen dazu keine Veranlassung geben, so könnte der Senat dieser Auslegung des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO nicht folgen. Denn schon aus dem Wortlaut des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AO, nach dem es auf das "Bekanntwerden" und nicht auf das "Bekanntseinmüssen" neuer Tatsachen und Beweismittel ankommt, ist zu entnehmen, daß an die Ermittlungs- und Aufklärungspflicht der Veranlagungsbeamten keine zu strengen Anforderungen gestellt werden dürfen. In erster Linie ist es Sache des Steuerpflichtigen, bei der Aufgabe von Steuererklärungen den möglicherweise für die Besteuerung erheblichen Sachverhalt zu schildern, die notwendigen Unterlagen beizufügen oder auf bei den Akten befindliche Unterlagen hinzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 411901 |
BStBl III 1966, 209 |
BFHE 1966, 577 |
BFHE 84, 577 |