Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Wird ein steuerlicher Tatbestand durch eine Mehrheit von Tatsachen, die zusammenfassend zu würdigen sind, verwirklicht, so sind Tatsachen, die nach der Veranlagung bekannt werden, neu im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, wenn sie den ganzen Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen lassen. Dies gilt auch für Tatsachen, die erst nach der Veranlagung entstehen.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Der Steuerpflichtige ist Bauingenieur und Gesellschafter der Firma J. OHG.

Er erwarb und veräußerte in den Jahren 1952 bis 1956 fünf Grundstücke. Drei davon hatte er bebaut.

Weitere zehn Grundstücke, die der Steuerpflichtige in den Jahren 1953 bis 1956 erwarb und zum Teil bebaute, stehen noch im Eigentum des Steuerpflichtigen.

Der Steuerpflichtige behandelte in den Einkommensteuererklärungen für 1952 bis 1955 die von ihm erworbenen Grundstücke als Privatvermögen und den überschuß der Einnahmen aus diesen Grundstücken als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Dabei nahm er die erhöhten Absetzungen für Wohngebäude nach § 7 b EStG in Anspruch.

Das Finanzamt folgte dieser Behandlung. Im Zuge einer Geschäftsprüfung im Jahre 1957 vertrat der Bayerische Oberste Rechnungshof auf Grund der in den Steuerakten vorgefundenen Unterlagen die Auffassung, daß es sich bei dem Erwerb, der Bebauung und der Veräußerung von Grundstücken durch den Steuerpflichtigen um eine gewerbliche Tätigkeit handle.

Zum gleichen Ergebnis kam die Steuerfahndungsstelle des Finanzamts, die im Jahre 1957 den Betrieb des Steuerpflichtigen prüfte. Sie betrachtete daher alle Grundstücke, die der Steuerpflichtige erworben hatte, als zum Betriebsvermögen gehörig und die Mieteinnahmen als gewerbliche Einkünfte. Die Grundstücke rechnete der Prüfer zum Umlaufvermögen und folgerte daraus, daß die Absetzungen nach § 7 b EStG nicht in Anspruch genommen werden können.

Das Finanzamt berichtigte diesen Feststellungen entsprechend die Einkommensteuerbescheide für 1953 bis 1955 und setzte erstmals die einheitlichen Gewerbesteuermeßbeträge für diese Jahre fest.

Der Einspruch gegen den Einkommensteuerberichtigungsbescheid blieb ohne Erfolg.

Die Berufung führte zur Aufhebung der Einspruchsentscheidung und des Einkommensteuerberichtigungsbescheids für 1953 und 1954. Hinsichtlich des Jahres 1955 wurde die Berufung als unzulässig verworfen, weil der Steuerpflichtige durch die Steuerfestsetzung auf 0 DM nicht beschwert sei.

Das Finanzamt hatte die Berichtigungsveranlagung darauf gestützt, daß die folgenden neuen Tatsachen bekanntgeworden seien;

Der Gewinn aus der Veräußerung des Anwesens H-Straße sei zu Unrecht als Spekulationsgewinn der Besteuerung unterworfen worden, weil die Frist zwischen Erwerb und Veräußerung mehr als zwei Jahre betragen habe.

Der Steuerpflichtige habe zu Beginn seiner Grundstücksgeschäfte durch die Buchhalterin eine doppelte Buchführung anlegen lassen. Diese spreche für das Vorliegen der Wiederholungsabsicht als Tatbestandsmerkmal für sämtliche Grundstücksgeschäfte des gesamten Prüfungszeitraums..

Es sei ein Vorkaufsrecht auf dem Grundstück H-Straße eingetragen worden. Daraus könne auf die von vornherein bestehende Veräußerungsabsicht geschlossen werden.

Dem Finanzamt sei eine Mitteilung über die gewerbliche Betätigung des Steuerpflichtigen zugegangen. Diese sei ein Beweisanzeichen gewesen, das durch Hinzukommen weiterer Beweisanzeichen, die auf die Wiederholungsabsicht hindeuten (wie etwa das Einrichten einer doppelten Buchführung), zu einem Beweismittel und damit zu einer neuen Tatsache geworden sei.

Das Finanzgericht hat dagegen den Standpunkt vertreten, diese Tatsachen seien nicht geeignet, die Berichtigung der Steuerbescheide zu rechtfertigen. Im einzelnen hat es ausgeführt.

Zu 1. Auch wenn dies eine neue Tatsache wäre, würde sie nur zu einer niedrigeren Veranlagung führen können. Das Finanzamt dürfe sich daher nicht auf sie berufen, um eine höhere Steuer festzusetzen.

Zu 2. bis 4. Das Vorhandensein einer Buchführung, die Mitteilung über die angebliche gewerbliche Betätigung des Steuerpflichtigen und das Eintragen eines Vorkaufsrechts auf einem Grundstück stellten lediglich Beweisanzeichen dar, aber weder neue Tatsachen noch neue Beweismittel. Im Fall des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO müsse es sich aber um Tatsachen handeln, die den Steuertatbestand unmittelbar beträfen. Solche Tatsachen seien die zahlreichen und vielfältigen Grundstücksgeschäfte, die dem Finanzamt bereits im Zeitpunkt der Veranlagung für 1953 bis 1955 bekannt gewesen seien. Gegenüber diesen Tatsachen fehle den inzwischen festgestellten Beweisanzeichen jedes Gewicht.

Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts richtet sich lediglich gegen die Entscheidung des Finanzgerichts für das Jahr 1953.

Der Vorsteher des Finanzamts führt aus, als am 2. Februar 1955 die Veranlagung für 1953 durchgeführt worden sei, seien beim Finanzamt zwar einige Veräußerungsmitteilungen (fünf Erwerbe, drei Veräußerungen) eingegangen gewesen. Abgesehen davon, daß es zweifelhaft sei, ob diese Mitteilungen im Zeitpunkt der Veranlagung aus der Akte "Veräußerungsmitteilungen" bereits an die Veranlagungsstelle, auf deren Kenntnis es allein ankomme, weitergegeben worden seien, seien die darin mitgeteilten Grundstücksgeschäfte erst ab Mitte des Jahres 1954 durchgeführt worden. Das Finanzamt habe daraus nicht den Schluß ziehen können, der Steuerpflichtige habe sich im Jahre 1953 als Grundstückshändler betätigt.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist begründet.

Das Finanzamt durfte den Einkommensteuerbescheid für 1953 berichtigen, weil durch die Prüfung, die die Steuerfahndungsstelle durchgeführt hatte, neue Tatsachen bekannt wurden, die eine höhere Veranlagung für 1953 rechtfertigten (ß 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO).

In dem Zeitpunkt, in dem der Steuerpflichtige für 1953 veranlagt wurde, lagen dem Finanzamt, das die Veranlagung durchführte, die Veräußerungsmitteilungen über den Erwerb von fünf Grundstücken und über die Veräußerung von drei Grundstücken durch den Steuerpflichtigen vor. Diese Grundstücksgeschäfte müssen daher als damals bekannt angesehen werden. Denn die Heranziehung der Akte "Einheitswert- und Veräußerungs-Mitteilungen" durfte billigerweise vom Bearbeiter der Einkommensteuerveranlagung verlangt werden (Urteil des Bundesfinanzhofs III 383/57 U vom 23. Mai 1958, BStBl 1958 III S. 326, Slg. Bd. 67 S. 137).

Durch die Steuerfahndungsstelle wurde im Jahre 1957 ermittelt, daß der Steuerpflichtige ein weiteres Grundstück im Jahre 1955 und ein Grundstück im Jahre 1956 verkauft und in den Jahren 1953 bis 1955 (hauptsächlich in den Jahren 1953 und 1954) im ganzen dreizehn Grundstücke gekauft hat.

Ein beträchtlicher Teil der Grundstücksgeschäfte, die der Steuerpflichtige in den Jahren 1953 bis 1955 durchgeführt hat, war somit dem Finanzamt bei der Veranlagung für 1953 noch nicht bekannt. Die unbekannten Geschäfte (zwei Veräußerungen, acht Anschaffungen) sind die neuen Tatsachen, die eine höhere Veranlagung für 1953 rechtfertigen.

Dies ergibt sich aus folgender überlegung: Die Frage, ob der Erwerb, die Bebauung und die Veräußerung von Grundstücken eine gewerbliche Tätigkeit darstellt oder nicht, kann in der Regel nur dann richtig beurteilt werden, wenn die gesamten Umstände, insbesondere das Verhalten des Steuerpflichtigen innerhalb eines gewissen Zeitraums, zusammenfassend gewürdigt werden. Einzelne, dem Finanzamt bekannte Käufe und Verkäufe mögen für sich betrachtet noch nicht den Schluß rechtfertigen, daß sich der Steuerpflichtige gewerblich betätigt hat. Werden aber weitere, später aufgedeckte Grundstücksgeschäfte in die Beurteilung einbezogen, so kann sich das Gesamtbild eines Gewerbebetriebs ergeben. In einem solchen Fall müssen die Geschäfte, die erst später bekannt werden, als erhebliche neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO gewertet werden. Denn sie lassen den ganzen Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen. Ein derartiger Fall liegt hier vor.

Auch Tatsachen, die erst nach dem Zeitpunkt der Veranlagung entstanden sind, können nach Auffassung des Senats jedenfalls dann die Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO rechtfertigen, wenn sie nicht ein selbständiges Tatbestandsmerkmal für Grund oder Höhe der Steuerpflicht darstellen, sondern lediglich die richtige Beurteilung vor der Veranlagung liegender Vorgänge ermöglichen. Der Berichtigung des Steuerbescheids für 1953 steht auch nicht entgegen, daß ein großer Teil der "neuen" Grundstücksgeschäfte nicht im Jahre 1953 durchgeführt wurde. Voraussetzung des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO ist nur, daß die neue Tatsache den Steuerfall berührt, den der zu berichtigende Bescheid betroffen hat (Urteil des Reichsfinanzhofs I A 313/32 vom 15. Mai 1934, RStBl 1934 S. 677). Die Tatsache kann daher auch für mehrere Veranlagungszeiträume (Urteil des Reichsfinanzhofs I A 94/33 vom 12. Juni 1934, RStBl 1934 S. 849) oder für verschiedene Steuerarten (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 188/60 U vom 20. September 1962, BStBl 1963 III S. 10, Slg. Bd. 76 S. 25) neu sein.

Da somit die Berichtigungsveranlagung für 1963 zulässig ist, geht die Sache zurück an das Finanzgericht, das sich nunmehr mit den sachlichen Fragen der Veranlagung für 1953 befassen wird.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411771

BStBl III 1965, 677

BFHE 1966, 495

BFHE 83, 495

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