Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand trotz Hinzuziehung einer Hilfsperson

 

Leitsatz (NV)

1. Ein Verschulden an der Versäumung einer gesetzlichen Frist kann sich daraus ergeben, daß bei längerer Abwesenheit von der Wohnung zwar eine Hilfsperson mit der Kontrolle der Postzustellungen beauftragt wird, die Hilfsperson sich aber nicht regelmäßig in der Wohnung aufhält und auch keine Vereinbarung getroffen wird, nach der die Hilfsperson die Wohnung turnusmäßig aufzusuchen hat.

2. Der Grundsatz, daß bei vorübergehender Abwesenheit von der Wohnung keine Vorkehrungen für eine Kontrolle der Postzustellungen getroffen zu werden brauchen, ist nicht in Fällen anwendbar, in denen die Abwesenheit von der Wohnung die Regel ist.

 

Normenkette

FGO § 56 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) am 19. November 1982 einen Haftungsbescheid. Den hiergegen gerichteten Einspruch des Klägers wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 8. April 1983 zurück. Diese Einspruchsentscheidung wurde am 9. April 1983 durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt, wobei vom Postzusteller eine schriftliche Mitteilung über die Niederlegung an der Wohnungstür des Klägers befestigt wurde.

Der Kläger erhob mit Schreiben vom 24. Mai 1983 - eingegangen beim Finanzgericht (FG) am 25. Mai 1983 - Klage gegen den Haftungsbescheid und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist. Er machte geltend, er habe am 14. Mai 1983 die niedergelegte Einspruchsentscheidung bei dem Postamt abgeholt, nachdem er erstmals an diesem Tage nach längerer Zeit wieder in seine Wohnung in R zurückgekehrt sei. Ergänzend trug er vor, er sei vom 4. April 1983 zunächst für drei Wochen in K gewesen, um dort eine neue berufliche Existenz zu finden. Ohne vorher in die Wohnung in R zurückzukehren, sei er dann zu einem Auslandsaufenthalt verreist, von dem er erst am 12. Mai 1983 nach K zurückgekehrt sei. Am 13. Mai 1983 habe er erneut das Arbeitsamt K aufgesucht und sei dann am 14. Mai 1983 nach R gefahren.

Ergänzend hat der Kläger vorgetragen, es sei mit seiner Ehefrau abgesprochen gewesen, daß diese ihn umgehend telefonisch vom Eingang wichtiger Schreiben in seiner Wohnung in R unterrichten sollte. Seine Telefonnummer in K sei seiner Ehefrau bekannt gewesen, so daß diese ihn habe informieren können. Sie habe ihn auch sonst über wichtige Angelegenheiten informiert; sie habe aber erklärt, daß ihr die Zustellung der Einspruchsentscheidung nicht bekannt gewesen sei.

Das FG wies die Klage mit folgender Begründung als unzulässig ab:

Die Zustellung sei nach § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) i. V. m. §§ 181, 182 der Zivilprozeßordnung (ZPO) wirksam vorgenommen worden. Die Zustellung durch Niederlegung sei wirksam, weil der Kläger damals in R seine ständige Wohnung gehabt habe. Seinem Antrag, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, könne nicht entsprochen werden, da er die Klagefrist nicht schuldlos i. S. des § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) versäumt habe.

Es sei ihm zumutbar gewesen, seine nur 18 km von K entfernte Wohnung aufzusuchen und sich um unerledigte Zustellungen zu kümmern. Er habe sich auch nicht darauf verlassen können, daß ihn seine Ehefrau über Zustellungen unterrichten würde, da diese bei ihren Eltern in K gelebt habe.

Der Kläger habe sorgfaltswidrig gehandelt, wenn er die Wohnung in R nicht turnusmäßig aufgesucht oder keinen Nachsendeauftrag gestellt habe, weil er in der fraglichen Zeit mit der Zustellung der Einspruchsentscheidung durch das FA hätte rechnen müssen. Er hätte zumutbare Vorkehrungen treffen müssen, weil das FA ihm die Zurückweisung des Einspruchs in Aussicht gestellt habe (Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. Oktober 1981 IV R 108/81, BFHE 134, 388, BStBl II 1982, 165). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Fällen, in denen eine fristenauslösende Zustellung während der Urlaubsabwesenheit des Adressaten ausgeführt werde, könne nicht auf den Streitfall angewendet werden, weil er - der Kläger - sich zum Zeitpunkt der Zustellung der Einspruchsentscheidung nicht in Urlaub befunden habe. Er habe sorgfaltswidrig gehandelt, indem er nicht vor Antritt des Auslandsaufenthalts in seiner Wohnung in R geprüft habe, ob eine Zustellung erfolgt sei.

Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Zur Begründung trägt er vor:

Es sei unzutreffend, daß er konkret mit einer Zustellung im April 1983 hätte rechnen müssen, nachdem er auf das Schreiben des FA vom 23. Dezember 1982 nicht reagiert habe. Aus einem an die Adresse in K gerichteten Schreiben des FA P vom 30. März 1983 habe er entnommen, daß auch dem FA E seine Anschrift in K bekannt gewesen sei, weil es sich jedesmal um die vom FA festgesetzte Haftungsschuld gehandelt habe.

Er habe sich darauf verlassen können, daß seine Ehefrau ihm mitteile, wenn sie Schriftstücke des FA erhalten hätte. Sie habe ihn stets erreichen können und ihn sonst auch stets umgehend telefonisch benachrichtigt. Indem er seine Ehewohnung mit der Maßgabe verlassen habe, daß seine Ehefrau ihn über die Posteingänge benachrichtigen sollte, habe er sich einer Hilfsperson bedient. Ein Verschulden dieser Hilfsperson sei ihm nicht zuzurechnen, wie sich aus dem Urteil des BFH vom 11. Januar 1983 VII R 92/80 (BFHE 137, 399, BStBl II 1983, 334) ergebe. Er habe in sachgerechter Weise seiner Ehefrau die Anweisung erteilt, ihn von wichtigen Schreiben zu informieren, so daß ihm das Verschulden dieser Hilfsperson nicht zugerechnet werden dürfe.

Der Kläger beantragt sinngemäß, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und den Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Klagefrist von einem Monat (§ 47 Abs. 1 FGO) durch die Zustellung der Einspruchsentscheidung am 9. April 1983 in Lauf gesetzt worden und am 9. Mai 1983 abgelaufen ist (§ 54 FGO i. V. m. § 222 ZPO und §§ 186 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Die am 25. Mai 1983 erhobene Klage war deshalb verspätet.

Dem FG ist auch darin zu folgen, daß dem Kläger wegen der Versäumung der Klagefrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann. Eine Wiedereinsetzung findet nur statt, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Eine Fristversäummis ist als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (vgl. BFH-Urteil vom 14. April 1976 IV R 43-45/75, BFHE 119, 208, BStBl II 1976, 624).

Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, er habe seine Ehefrau als Hilfsperson mit der Kontrolle aller für ihn bestimmten Zustellungen beauftragt gehabt und ihr Verschulden könne ihm nicht zugerechnet werden. Denn entgegen seiner Ansicht liegt im Streitfall kein fremdes, sondern eigenes Verschulden vor.

Das eigene Verschulden des Klägers ergibt sich aus der - nicht sachgerechten - Hinzuziehung einer dafür nicht geeigneten Hilfsperson. Ein solches Verschulden bei der Auswahl der Hilfsperson folgt daraus, daß die mit der Kontrolle der Zustellungen beauftragte Ehefrau nicht in dieser Wohnung in R anwesend war. Weil die Ehefrau in K und nicht in R wohnhaft gewesen ist, hätte es für eine sachgerechte Vorkehrung einer Vereinbarung bedurft, wonach die Hilfsperson die Wohnung in R turnusmäßig aufsuchen sollte. Eine solche Regelmäßigkeit der Kontrolle der Wohnung in R auf eingegangene Postzustellungen ist aber nicht vorgetragen worden und auch nicht erkennbar. Dies entnimmt der erkennende Senat dem Umstand, daß die an der Wohnungstür am 9. April 1983 befestigte Benachrichtigung bis zur Rückkehr des Klägers am 14. Mai 1983 nicht beachtet worden ist und somit während dieser ganzen Zeit keine Nachschau durch die Ehefrau erfolgt sein kann.

Da somit ein eigenes Verschulden des Klägers wegen nicht sachgerechter Auswahl der Hilfsperson zu bejahen ist, kommt es auf die Frage, ob dem Kläger ein Verschulden der Ehefrau zuzurechnen wäre, entgegen der Rüge der Revision, nicht an.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf den Beschluß des BVerfG vom 11. Februar 1976 2 BvR 849/75 (BVerfGE 41, 332) berufen. Das BVerfG hat in diesem Beschluß u. a. ausgeführt, daß es dem Bürger als ein die Wiedereinsetzung ausschließender Umstand nicht zugerechnet werden darf, wenn vor einer nur vorübergehenden Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung keine besonderen Vorkehrungen wegen der möglichen Zustellung eines Bußgeldbescheides getroffen werden. Jedoch vertreten das BVerfG und die obersten Gerichtshöfe des Bundes in ihrer Rechtsprechung die Auffassung, daß es einem Gebot der prozessualen Sorgfaltspflicht entspricht, bei längerer Abwesenheit Vorkehrungen für den Erhalt von Schriftstücken zu treffen, durch deren Zustellung Fristen in Lauf gesetzt werden. Das trifft insbesondere für Personen zu, die sich oft oder länger auf Geschäfts- oder Dienstreisen befinden und bei denen die Abwesenheit von der Wohnung zur Regel wird (BVerfGE 41, 332, 336 f.; BFH-Urteil vom 17. November 1970 II R 121/70, BFHE 100, 490, BStBl II 1971, 143). Diesen Personen ist es zuzumuten, sich bei der Reisevorbereitung darauf einzustellen, daß sie von fristauslösenden Zustellungen während ihrer Abwesenheit von der Wohnung Kenntnis erhalten und das zur Fristwahrung Erforderliche veranlassen, ohne daß es darauf ankäme, ob sie im Einzelfall mit solchen Zustellungen rechnen müssen. Betroffen hiervon sind solche Personen, bei denen die Abwesenheit von der ständigen Wohnung nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist.

Für den Kläger ist die Abwesenheit von der Wohnung in R während des hier in Frage stehenden Zeitraums die Regel gewesen. Selbst wenn er sich nach seinem ursprünglichen Entschluß nur kurzfristig zur Arbeitssuche nach K begeben wollte, wurde die ursprünglich geplante Ausnahme durch die Wohnungsnahme in K zur Regel. Spätestens bei Änderung seines ursprünglichen Entschlusses wurde für den Kläger die Pflicht begründet, in R besondere Vorkehrungen für den Erhalt fristauslösender Schriftstücke zu treffen.

Es kommt deswegen entgegen der Rüge der Revision nicht darauf an, ob der Kläger konkret mit der Zustellung einer Einspruchsentscheidung hatte rechnen müssen. Daß ein anderes FA die Anschrift in K gekannt hat, muß für die Beurteilung des Falles außer Betracht bleiben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414701

BFH/NV 1988, 89

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