Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Geschäftsführerhaftung; Aufhebung des Verwaltungsakts ohne Entscheidung in der Sache

 

Leitsatz (NV)

1. Von der Geschäftsführerhaftung stellt die gewissenhafte Erfüllung der Anmeldepflichten und die Unterrichtung des FA über die schlechte finanzielle Lage der KG durch den Geschäftsführer genausowenig frei wie der Entzug des Verfügungsrechts des Geschäftsführers über die Mittel der KG durch eine Bank.

2. Bei der Geschäftsführerhaftung kann die Frage eines etwaigen Mitverschuldens des FA nur bei der Ermessensentscheidung des FA über die Inanspruchnahme des Geschäftsführers eine Rolle spielen. Das FA trifft kein Mitverschulden, wenn es nicht jeweils sofort wegen der fälligen Steuerschulden der KG vollstreckt hat.

3. Der Geschäftsführer hat USt-Schulden nicht vorrangig, sondern grundsätzlich im gleichen Verhältnis zu tilgen wie die übrigen Schulden.

4. Ob die Voraussetzungen des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO (wesentliche Verfahrensmängel im Verwaltungsverfahren) erfüllt sind, ist nach der materiellen Rechtsauffassung zu beurteilen, die das FA seiner Entscheidung zugrundegelegt hat.

 

Normenkette

AO § 109; AO 1977 § 69; FGO § 100 Abs. 2 S. 2

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH, die ihrerseits die Geschäftsführung einer KG innehatte. Am 10. März 1977 stellte die KG Antrag auf Eröffnung des Vergleichsverfahrens. Mit Beschluß vom 1. Juli 1977 lehnte das Amtsgericht den Vergleichsantrag ab und eröffnete den Anschlußkonkurs über das Vermögen der KG.

Mit Bescheid vom 5. Oktober 1977 nahm der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Kläger nach §§ 105, 109, 118 der Reichsabgabenordnung (AO) und §§ 34, 69, 191 der Abgabenordnung (AO 1977) für rückständige Lohnsteuer und Umsatzsteuer zuzüglich Säumniszuschlägen in Höhe von insgesamt rd. 300 000 DM in Anspruch. Die rückständigen Umsatzsteuerbeträge entnahm das FA den Umsatzsteuer-Voranmeldungen Juli 1976 bis Juni 1977; sie betrugen insgesamt 210 502,07 DM zuzüglich Säumniszuschlägen zur Umsatzsteuer von 11 425 DM.

Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte nur zum geringen Teil Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte hinsichtlich der Umsatzsteuer im wesentlichen folgendes aus:

Der Kläger hafte nach den Vorschriften der AO und der AO 1977. Der Kläger habe es pflichtwidrig und schuldhaft unterlassen, die zum jeweiligen Fälligkeitstag anzumeldende Umsatzsteuer an das FA zu entrichten. Auszunehmen von der Haftung seien allerdings die Beträge lt. Umsatzsteuer-Voranmeldungen Mai und Juni 1977, da wegen der vom FA genehmigten Fristverlängerung die genannten Beträge erst nach Konkurseröffnung fällig geworden und daher zum Fälligkeitszeitpunkt der Verfügungsmacht des Klägers entzogen gewesen seien. Nicht auszuscheiden aus der Haftung seien dagegen die Beträge lt. Umsatzsteuer-Voranmeldungen Januar und Februar 1977. Im Zeitpunkt des Antrags auf Eröffnung des Vergleichsverfahrens am 10. März 1977 seien diese Beträge bereits fällig gewesen.

Gegen die Inanspruchnahme für rückständige Umsatzsteuer könne der Kläger nicht mit Erfolg einwenden, daß er nicht in der Lage gewesen sei, die fälligen Beträge Juli 1976 bis März 1977 abzuführen. In Rechnung gestellte Umsatzsteuer gehe grundsätzlich allen übrigen Verbindlichkeiten des Betriebes vor. Auch wenn man davon ausgehen müsse, daß die KG die Umsatzsteuer lediglich gleichberechtigt mit diesen zu tilgen gehabt habe, führe dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Entwicklung der Kreditoren - insbesondere im Zeitraum Juni 1976 bis Februar 1977 -, wie sie der Prüfer im Aktenvermerk vom 17. April 1978 geschildert habe, lasse ganz deutlich erkennen, daß der Kläger einseitig mit den vorhandenen Mitteln die Lieferantenverbindlichkeiten bedient habe.

Die Nichtzahlung der laufenden Umsatzsteuer-Verbindlichkeiten begründe den Vorwurf eines erheblichen Sorgfaltsverstoßes. Als verantwortlicher Unternehmensleiter habe sich der Kläger über die gesetzlichen Vorschriften betreffend Voranmeldung und Abführung von Umsatzsteuer im klaren sein müssen. Auf die diesbezüglichen Pflichten sei er auch wiederholt vom beklagten FA anläßlich seiner Vorsprachen hingewiesen worden. Der Kläger könne nicht mit Erfolg einwenden, spätestens ab 1. Oktober 1976 hätten die Banken die ausschließliche Verfügungsgewalt über die der Firma innerhalb ihres Kreditrahmens zur Verfügung stehenden Mittel gehabt. Das FG halte es für völlig ausgeschlossen, daß Vertreter der Banken dem Kläger zu verstehen gegeben haben könnten, er könne zwar mit diesen Mitteln den Betrieb fortführen, dürfe aber nicht die laufenden Steuerschulden bezahlen. Selbst wenn aber ein entsprechendes Verbot durch die Banken ausgesprochen worden sei, habe der Kläger im Hinblick darauf, daß er seinen Steuerpflichten nicht habe nachkommen können, den Betrieb nicht fortführen dürfen.

Die Inanspruchnahme des Klägers für die rückständige Umsatzsteuer sei auch nicht ermessensfehlerhaft. Das FA treffe kein Mitverschulden. Ausweislich der Vollstreckungsakten sei dem Kläger zu keinem Zeitpunkt durch das FA zu verstehen gegeben worden, daß er die fälligen Steuerbeträge nicht sogleich abzuführen habe. Ein Mitverschulden des FA liege auch nicht darin, daß dieses zeitweise keine Vollstreckungsmaßnahmen ergriffen habe. Übrigens hätte eine etwaige Pflichtverletzung des FA nicht zu einem Mitverschulden führen können. Es handle sich bei der Frage der Zwangsvollstreckung nicht um Pflichten, die dem FA im Verhältnis zum jeweiligen Arbeitgeber oblägen.

Der Kläger hat gegen das Urteil des FG in vollem Umfang Revision eingelegt. Der V. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat mit Beschluß vom 18. August 1983 V R 26/80 das Verfahren wegen Haftung für Lohnsteuer nebst Säumniszuschlägen und für Kirchenlohnsteuer von dem Verfahren wegen Haftung für die Umsatzsteuer nebst deren Säumniszuschlägen abgetrennt. Der erkennende Senat hat mit Urteil vom 10. Juli 1984 VII R 128/83 die Revision des Klägers, soweit sie die Inanspruchnahme für die Lohnsteuer einschließlich Säumniszuschlägen betraf, als unbegründet zurückgewiesen. Aufgrund des Geschäftsverteilungsplanes des BFH für 1985 hat der erkennende Senat das wegen der Haftung für Umsatzsteuer noch anhängige Verfahren vom V. Senat übernommen.

Hinsichtlich der Umsatzsteuer einschließlich der zugehörigen Säumniszuschläge begründet der Kläger seine Revision u.a. wie folgt:

Der haftungsbegründende Tatbestand sei in allen Fällen ausschließlich erst im Jahre 1977 vollendet worden. Es liege eine echte Schadensersatzhaftung vor. Zu den tatbestandlichen Voraussetzungen gehöre der Eintritt eines Schadens, also die Tatsache, daß die Ansprüche endgültig nicht erfüllt worden seien. Dies habe jedoch erst nach Eröffnung des Anschlußkonkurses am 1. Juli 1977 festgestanden.

Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, Umsatzsteuerschulden seien grundsätzlich vorrangig zu befriedigen. Die Feststellung, die das FG im Rahmen seiner Hilfsbegründung für den Fall, daß Umsatzsteuerschulden keinen Vorrang hätten, getroffen habe, reiche nicht aus, um den angefochtenen Haftungsbescheid bestätigen zu können. Das stelle einen von Amts wegen zu beachtenden materiellen Fehler dar. Das FG hätte feststellen müssen, in welchem Maße die Steuerschulden bedient worden wären, wenn er sich an die Anforderungen der Rechtsprechung gehalten hätte, alle Gläubiger gleichmäßig zu befriedigen. Diese Feststellungen hätten konkret bezogen auf die einzelnen Fälligkeitszeitpunkte getroffen werden müssen; nach dem Urteil des I. Senats des BFH vom 17. Juli 1985 I R 205/80 (BFHE 144, 329, BStBl II 1985, 702) sei eine pauschale Erfassung von Zeiträumen nicht zulässig. Da der BFH nicht selbst entscheiden könne, komme nur eine Zurückverweisung oder eine Entscheidung nach § 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in Betracht. Da die erforderlichen Aufklärungsmaßnahmen aufwendig seien, seien nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO die Vorentscheidung, der Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung ersatzlos aufzuheben.

Den Ausführungen des FG zur Frage des Mitverschuldens des FA könne nicht zugestimmt werden. Das FG verkenne Bedeutung und Tragweite des § 254 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), der unbestritten auch im Steuerhaftungsrecht gelte. Die hoffnungslose finanzielle Situation der KG sei dem FA nicht verborgen geblieben. Wenn es sich gleichwohl zu einer Art Stillhalteabkommen mit dem Steuerschuldner verstanden habe, so sei dies mit dem Risiko geschehen, daß Steuerschulden ausfielen, wenn ihm, dem Kläger, eine Rettung der Firma nicht gelänge. Dagegen könne nicht vorgetragen werden, die dem FA eingeräumten Befugnisse seien keine Pflichten, die ihm im Verhältnis zum jeweiligen Arbeitgeber oblägen. Das sei eine eindeutige Verkennung des Zwecks und der Voraussetzungen des § 254 Abs. 2 BGB. Das BFH-Urteil vom 11. August 1978 VI R 169/75 (BFHE 125, 508, BStBl II 1978, 683), auf das sich das FG in diesem Zusammenhang beziehe, betreffe einen anders gelagerten Fall.

Der Kläger beantragt die Aufhebung der Vorentscheidung, des Haftungsbescheids und der Einspruchsentscheidung.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Der Senat hält allerdings die Revisionsangriffe in folgenden Punkten nicht für begründet:

a) Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, daß sich die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides hinsichtlich der Umsatzsteuer nach § 109 AO bzw. § 69 AO 1977 richtet. Nach Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) sind die Vorschriften der §§ 69 ff. AO 1977 anzuwenden, wenn der haftungsbegründende Tatbestand nach dem 31. Dezember 1976 verwirklicht worden ist. Der Haftungstatbestand des § 109 AO ist verwirklicht, wenn - unter den übrigen Voraussetzungen dieser Bestimmung - eine Verkürzung des Steueranspruches eingetreten ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegt eine Steuerverkürzung im Sinne dieser Vorschrift vor, wenn eine geschuldete Steuer nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig an die Finanzkasse abgeführt worden ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20. April 1982 VII R 96/79, BFHE 135, 416, 418, BStBl II 1982, 521, 522, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BFH). Rechtzeitig abgeführt sind Umsatzsteuerbeträge aber nur dann, wenn sie bis zur Fälligkeit bezahlt worden sind. Die Umsatzsteuer für die jeweiligen Voranmeldungszeiträume war jeweils 10 Tage nach Ablauf jedes Kalendermonats zu entrichten (§ 18 Abs. 2 Satz 3 des Umsatzsteuergesetzes - UStG - in der damals geltenden Fassung). Das FG ist daher zu Recht davon ausgegangen, daß der haftungsbegründende Tatbestand teilweise 1976 und teilweise 1977 verwirklicht worden ist. Die gegenteilige Auffassung des Klägers, der Haftungstatbestand sei erst erfüllt, wenn der Ausfall der Steuerschuld endgültig feststehe, findet im Gesetz keine Stütze.

b) Die gewissenhafte Erfüllung seiner Anmeldepflicht kann den Kläger nicht entlasten. Er hatte nach dem Gesetz über die Anmeldepflicht hinaus auch die Pflicht zur rechtzeitigen Entrichtung der angemeldeten Umsatzsteuerbeträge. Auf der Verletzung dieser Pflicht beruht der Haftungsbescheid. Zu Unrecht beruft sich der Kläger auch auf die schlechte wirtschaftliche Lage der KG und sein mangelndes Verschulden an dieser Lage. Er haftet nicht etwa deswegen, weil ihn ein Verschulden an dem Konkurs der KG trifft, sondern allein, weil er seine Pflicht zur Bezahlung der Umsatzsteuer schuldhaft verletzt hat.

c) Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, er habe das FA von der schlechten wirtschaftlichen Lage der KG stets informiert, das FA habe es aber seinerseits unterlassen, ihn auf seine persönliche Haftung hinzuweisen. Seine Pflicht zur Bezahlung der Umsatzsteuer ergab sich aus dem Gesetz. Diese Pflicht wurde durch die Unterrichtung des FA über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens nicht aufgehoben. Sie ist auch nicht etwa dadurch entfallen, daß das FA nicht mit Nachdruck auf der Erfüllung der Pflicht bestanden hat. Das FA konnte den Kläger nicht von den ihm durch Gesetz auferlegten Pflichten freistellen. Das FA hat den Grundsatz von Treu und Glauben in diesem Zusammenhang nicht verletzt.

d) Ohne Rechtsirrtum hat das FG dem Kläger nicht als Entschuldigungsgrund angerechnet, daß die Banken ihm angeblich das Verfügungsrecht über die Mittel der KG entzogen hatten. Der Kläger konnte sich seiner öffentlich-rechtlichen Pflicht zur Zahlung der Umsatzsteuer nicht durch privat-rechtliche Vereinbarungen entziehen (vgl. z. B. Entscheidung des erkennenden Senats vom 12. Juli 1983 VII B 19/83, BFHE 138, 424, BStBl II 1983, 655, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).

e) Zu Unrecht beruft sich der Kläger auf ein Mitverschulden des FA gemäß § 254 BGB. Der Haftungsanspruch nach § 109 Abs. 1 AO bzw. § 69 AO 1977 entsteht, wenn die Tatbestandsmerkmale dieser Bestimmung erfüllt sind. Zu diesen gehört nicht, daß ein Haftungsanspruch ganz oder teilweise nicht geltend gemacht werden kann, wenn ein Mitverschulden der Verwaltung vorliegt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 254 BGB. Diese Bestimmung betrifft den bürgerlich-rechtlichen Schadensersatzanspruch und kann auf öffentlich-rechtliche Steuerhaftungsansprüche nicht ohne weiteres angewendet werden.

Die Frage eines etwaigen Mitverschuldens des FA könnte allerdings im Rahmen der Ermessensentscheidung eine Rolle spielen, die das FA bei der Geltendmachung des Haftungsanspruchs zu treffen hatte. Auf die damit zusammenhängenden Rechtsfragen braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden, da das FG zu Recht ein Mitverschulden des FA verneint hat. Von einem solchen Mitverschulden könnte nur dann die Rede sein, wenn das FA gegenüber dem Kläger oder der KG bestimmte Pflichten gehabt und diese schuldhaft verletzt hätte. Das FA war aber dem Kläger oder der KG gegenüber nicht verpflichtet, von einem ,,Stillhalteabkommen" abzusehen und jeweils sofort wegen der Steuerschulden zu vollstrecken. Nichts anderes hat auch der VI. Senat des BFH in seinem Urteil in BFHE 125, 508, BStBl II 1978, 683 zum Ausdruck gebracht.

2. Das FG hat jedoch zu Unrecht seine Entscheidung, der Kläger habe es pflichtwidrig und schuldhaft unterlassen, zum jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt die angemeldete Umsatzsteuer zu entrichten, im wesentlichen damit begründet, der Kläger habe die Pflicht gehabt, die Umsatzsteuer grundsätzlich vorrangig gegenüber allen anderen Verbindlichkeiten der KG zu entrichten. Umsatzsteuerschulden sind vielmehr grundsätzlich im gleichen Verhältnis zu tilgen wie die übrigen Schulden (vgl. BFH-Urteile vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 756, und vom 26. März 1985 VII R 139/81, BFHE 143, 488, BStBl II 1985, 539).

3. In seiner Hilfsbegründung hat das FG zwar entschieden, auch wenn die Umsatzsteuerschulden gleichberechtigt mit den anderen Verbindlichkeiten zu tilgen gewesen wären, hätte der Kläger pflichtwidrig und schuldhaft gehandelt, da er ,,einseitig mit den vorhandenen Mitteln die Lieferantenverbindlichkeiten bedient, hingegen für eine Bezahlung seiner Steuerschulden keine Sorge getragen" habe, wie die im Aktenvermerk des Betriebsprüfers vom 17. April 1978 geschilderte Entwicklung der Kreditoren deutlich erkennen lasse. Diese einzige in diesem Zusammenhang getroffene Feststellung des FG reicht jedoch nicht aus, um dem Senat die Überprüfung der Richtigkeit der Vorentscheidung zu ermöglichen. Dieser Umstand ist ein materieller Rechtsfehler der Vorentscheidung, den der erkennende Senat von Amts wegen zu berücksichtigen hat und der zur Aufhebung der Vorentscheidung führen muß (vgl. auch Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 118 Anm. 13 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).

Der Kläger hat, wie sich aus der Vorentscheidung und den angefochtenen Bescheiden ergibt, vorgetragen, der KG hätten im maßgebenden Zeitraum keine hinreichenden Mittel zur Begleichung der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschulden zur Verfügung gestanden. Auch das FG geht offenbar von der Richtigkeit dieses Vortrags aus, meint aber, der Kläger habe ,,einseitig" die Lieferantenverbindlichkeiten bedient. Es kann dahinstehen, ob diese Feststellung durch den Hinweis auf den Prüfervermerk vom 17. April 1978 hinreichend begründet ist (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO). Denn jedenfalls reicht diese Feststellung nicht aus, um überprüfen zu können, ob der Kläger die rechtzeitige Begleichung der noch streitbefangenen Umsatzsteuerschulden in vollem Umfang pflichtwidrig und schuldhaft unterlassen hat.

4. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Da es an ausreichenden Feststellungen des FG fehlt, war die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

a) Entgegen der Auffassung des Klägers ist der Senat nicht befugt, nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO zu entscheiden. Die ersatzlose Aufhebung des Haftungsbescheids und der zugehörigen Einspruchsentscheidung setzt nach dieser Vorschrift u.a. voraus, daß das Verwaltungsverfahren unter einem wesentlichen Verfahrensmangel leidet. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, ist nach der materiellen Rechtsauffassung zu beurteilen, die das FA seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat (BFH-Urteil vom 29. Mai 1984 VIII R 177/78, BFHE 141, 272, 276, BStBl II 1984, 661, 663; vgl. auch Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr. 9550 mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur). Das FA ist aber wie das FG von der unzutreffenden Rechtsauffassung ausgegangen, daß Umsatzsteuerschulden stets vorrangig zu begleichen seien (vgl. Seite 6 der Einspruchsentscheidung des FA vom 25. Juli 1978); es hat daher - von seiner Rechtsauffassung her gesehen zu Recht - die unter Nr. 3 vermißten Ermittlungen nicht angestellt.

b) Der Kläger haftet wegen schuldhafter Pflichtverletzung nur, soweit er aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Steuerschulden hätte tilgen können. Seine volle oder teilweise Haftung setzt deshalb die Feststellung voraus, daß die KG - ungeachtet sonstiger Verbindlichkeiten - bei Fälligkeit der Steuerschulden oder später über hinreichende Mittel zu deren Begleichung verfügte oder daß der Kläger - wenn diese Lage nicht gegeben war - die vorhandenen Mittel zu einer nicht in etwa anteiligen Befriedigung der privaten Gläubiger und des FA verwendet hat (BFH-Urteile vom 8. Juli 1982 V R 7/76, BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249, und vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 756). Das FG wird entsprechende Feststellungen zu treffen haben. Die dabei zu beachtenden Grundsätze ergeben sich aus dem heutigen, zur Veröffentlichung bestimmten Urteil des Senats vom 12. Juni 1986 VII R 192/83, von dem ein Abdruck beigefügt ist.

 

Fundstellen

BFH/NV 1988, 76

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