Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorgreiflichkeit der Gewinnfeststellung im Verfahren der Einkommensteuerfestsetzung; Seelotse

 

Leitsatz (NV)

1. Hat das FG im Klageverfahren über die Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Einkommensteuerbescheides auch über Einkünfte entschieden, die gesondert hätten festgestellt werden müssen, liegt ein Verfahrensmangel vor, der im Revisionsverfahren zur Aufhebung des FG-Urteils führt.

2. Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit sind gesondert festzustellen, wenn die Berufstätigkeit nicht vorwiegend vom Bezirk des Wohnsitzfinanzamts aus ausgeübt wird.

3. Ein Seelotse übt seinen Beruf nicht vorwiegend vom Bezirk seines Wohnsitzfinanzamts aus, wenn das Seelotsenrevier, in dem er tätig ist, außerhalb dieses Bezirks liegt.

 

Normenkette

AO 1977 § 18 Abs. 1 Nr. 3, § 19 Abs. 1 S. 1, §§ 127, 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b; FGO § 74; EStG § 18 Abs. 1 Nr. 1 S. 2

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute; sie werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Lotse.

Die Kläger bewohnten in A ein Einfamilienhaus. Ende 1986 wurde der Kläger Mitglied der Lotsenbrüderschaft in B. Er wohnte dort zunächst in einer gemieteten Unterkunft. Am 1. Juni 1987 bezog er sein neu errichtetes Einfamilienreihenhaus. Der Familienwohnsitz in A blieb bestehen.

In der Einkommensteuererklärung 1987 machte der Kläger Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung als Betriebsausgaben bei seinen Einkünften aus selbständiger Arbeit sowie einen Abzugsbetrag nach § 10 e Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) erkannte die geltend gemachten Aufwendungen nur zum Teil als abziehbar an; einen Abzugsbetrag nach § 10 e Abs. 1 EStG gewährte er nicht. Der Einspruch der Kläger war erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt. Dabei erkannte es u. a. weitere Betriebsausgaben des Klägers an.

Mit der Revision trägt das FA u. a. vor: Die Vorentscheidung sei aufzuheben, weil das FG im Verfahren über die Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheides 1987 endgültig über Fragen (Gewinn aus selbständiger Tätigkeit, Aufwendungen im Rahmen doppelter Haushaltsführung) entschieden habe, deren abschließende Prüfung dem Verfahren über einen Grundlagenbescheid vorbehalten sei. Der Kläger als Angehöriger der Lotsenbrüderschaft B werde zum einen als Hafenlotse zum Einschleusen und zum anderen für Lotsfahrten im ... von B nach C und zurück eingesetzt. Da er somit seine Tätigkeit vorwiegend von/im Bezirk des FA X und nicht im Bezirk des Wohnsitz-FA A ausübe, seien seine Einkünfte aus der Lotsentätigkeit nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b der Abgabenordnung (AO 1977) vom FA X gesondert festzustellen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

Die Vorentscheidung ist fehlerhaft, weil das FG im Verfahren über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheides über gesondert festzustellende Einkünfte entschieden hat.

1. Die Einkommensteuer wird im Regelfall auf der Grundlage eines einheitlichen Besteuerungsverfahrens durch Steuerbescheid festgesetzt. Dabei bildet die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen einen mit Rechtsbehelfen nicht selbständig anfechtbaren Teil des Steuerbescheides, soweit die Besteuerungsgrundlagen nicht gesondert festgestellt werden (§ 157 Abs. 2 AO 1977). Nach § 179 Abs. 1 AO 1977 werden die Besteuerungsgrundlagen abweichend von § 157 Abs. 2 AO 1977 durch Feststellungsbescheid gesondert festgestellt, soweit dies in diesem Gesetz oder sonst in den Steuergesetzen bestimmt ist. Die verfahrensmäßige Trennung zwischen der Veranlagung zur Einkommensteuer in einem einheitlichen, auf den Erlaß eines Steuerbescheides hinführenden Verfahren und der gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, die als Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO 1977) in die eigentliche Steuerfestsetzung (den Folgebescheid) Eingang findet, gehört zu der Grundordnung des Verfahrens (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 19. Juli 1990 IV R 11/89, BFH/NV 1991, 649, m. w. N.). Deshalb liegt nach der Rechtsprechung des BFH ein (auch ohne Rüge zu beachtender) Verfahrensmangel vor, der im Revisionsverfahren zur Aufhebung des FG-Urteils führt, wenn das FG unter Mißachtung der Vorgreiflichkeit des Feststellungsverfahrens im Verfahren betreffend Einkommensteuer über Fragen entscheidet, deren Prüfung dem Verfahren der gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vorbehalten ist (vgl. BFH-Urteile vom 26. Juli 1983 VIII R 28/79, BFHE 139, 335, BStBl II 1984, 290; vom 14. Februar 1984 VIII R 126/82, BFHE 141, 124, BStBl II 1984, 580, und in BFH/NV 1991, 649).

2. Das FG hat in der Vorentscheidung (auch) über die Einkünfte des Klägers aus seiner freiberuflichen Tätigkeit als Lotse (vgl. § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG; BFH- Urteil vom 21. Mai 1987 IV R 339/84, BFHE 150, 32, BStBl II 1987, 625) entschieden. Diese Einkünfte hätten gesondert festgestellt werden müssen.

a) Einkünfte aus einer freiberuflichen Tätigkeit werden nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 gesondert festgestellt, wenn das für die gesonderte Feststellung zuständige FA (vgl. § 18 AO 1977) nicht auch für die Steuern vom Einkommen (vgl. § 19 AO 1977) zuständig ist.

Nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 ist bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb, Land- und Forstwirtschaft sowie freiberuflicher Tätigkeit, an denen nicht mehrere Personen beteiligt sind (vgl. § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977), dann eine gesonderte Feststellung vorzunehmen, wenn Wohnsitz und Betriebsort bzw. Tätigkeitsort auseinanderfallen. Dem Betriebs-FA, dem Belegenheits-FA oder dem Tätigkeits- FA ist es in diesen Fällen besser möglich als dem Wohnsitz-FA, den Gewinn zu ermitteln (so die Gesetzesbegründung, BTDrucks VI/1982, 156 zu § 161 EAO 1974). Das Betriebs-, Belegenheits- oder Tätigkeits-FA ist "näher am Fall"; es ist mit den betrieblichen bzw. beruflichen Verhältnissen regelmäßig besser vertraut als das Wohnsitz-FA und kann daher eher eine richtige Entscheidung gewährleisten (vgl. BFH-Urteile vom 15. April 1986 VIII R 325/84, BFHE 147, 101, BStBl II 1987, 195, und vom 11. Dezember 1987 III R 228/84, BFHE 152, 27, BStBl II 1988, 230; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 180 AO 1977 Rz. 237, 240; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 180 AO 1977 Rz. 39; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 180 AO 1977 Anm. 2 c).

b) Im Streitfall fallen -- wie von § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 vorausgesetzt -- die örtliche Zuständigkeit für die gesonderte Gewinnfeststellung und für die Einkommensteuer auseinander. Der Beklagte ist zwar als Wohnsitz-FA für die Besteuerung der Kläger nach dem Einkommen zuständig (§ 19 Abs. 1 Satz 1 AO 1977), nicht aber für die gesonderte Feststellung der Einkünfte des Klägers aus freiberuflicher Tätigkeit (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977). Der Kläger hat seine Berufstätigkeit als Lotse nicht vorwiegend vom Bezirk des Beklagten aus ausgeübt. Der Kläger war nach den bindenden Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) im (gesamten) Streitjahr Lotse in B und Mitglied der dortigen Lotsenbrüderschaft. Daraus folgt, daß er seinen Beruf als Lotse (vollständig) außerhalb des Bezirks des Beklagten (vgl. § 10 der Landesverordnung über die Zuständigkeit der Finanzämter in Schleswig-Holstein vom 12. September 1977, Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein 1977, 334) ausgeübt hat. Denn eine Lotsenbrüderschaft (Körperschaft des öffentlichen Rechts) wird von den für ein Seelotsrevier bestellten Seelotsen gebildet (§ 27 Abs. 1 des Gesetzes über das Seelotswesen -- SLG -- vom 13. September 1984, BGBl I 1984, 1213). Seelotsreviere sind Fahrtstrecken und Seegebiete, für die zur Sicherheit der Schiffahrt die Bereitstellung einheitlicher, ständiger Lotsendienste angeordnet ist (vgl. § 2 SLG). Die Lotsenbrüderschaft B ist ausschließlich zuständig für die Fahrtstrecken zwischen B und C. Dieses Lotsrevier liegt außerhalb des Bezirks des Beklagten.

Überdies werden die für die Leistungen der Seelotsen zu entrichtenden Entgelte einschließlich der entstandenen Auslagen (Lotsgelder, § 45 SLG) von der jeweiligen Lotsenbrüderschaft für Rechnung der Seelotsen eingenommen und nach Abzug bestimmter Beträge an diese nach Maßgabe einer Verteilungsordnung verteilt (vgl. § 28 Abs. 1 Nr. 8 und 9 SLG). Das für die Lotsenbrüderschaft örtlich zuständige FA ist deshalb entsprechend dem dargelegten Zweck des § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 eher als das Wohnsitz-FA des Seelotsen in der Lage, dessen Gewinn zu ermitteln.

Im Streitfall kommt hinzu, daß der Kläger im Streitjahr im Rahmen einer aus beruflichem Anlaß begründeten Haushaltsführung am "Beschäftigungsort" (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG) B wohnte, wo sich eine der beiden Lotsenstationen auf dem Seelotsrevier ... befand.

Für die Anwendung des § 18 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977 ist demgegenüber unerheblich, ob der Kläger entsprechend seinem Vorbringen im Revisionsverfahren "regelmäßig bei Beendigung des Lotsturnusses die Heimreise direkt nach A angetreten" hat. Auch dann hätte der Kläger seine freiberufliche Tätigkeit als Lotse nicht vorwiegend vom Bezirk des Beklagten aus ausgeübt.

3. Eine Heilung nach § 127 AO 1977 kommt nicht in Betracht; denn die Verletzung der §§ 18, 19 AO 1977 in der gemäß § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO 1977 getroffenen Zuordnung ist ein nicht heilbarer Rechtsfehler (vgl. BFH-Urteil in BFHE 152, 27, BStBl II 1988, 230, unter 4. m. w. N.).

4. Die Vorentscheidung, die die Vorgreiflichkeit des Feststellungsverfahrens übersehen hat, war aufzuheben. Die Sache geht an das FG zurück, das bei der hier gegebenen Verfahrenslage wegen der noch fehlenden gesonderten Feststellung einer Besteuerungsgrundlage das Verfahren nach § 74 FGO aussetzen muß (vgl. BFH in BFHE 139, 335, BStBl II 1984, 290 unter 3.). Daran ändert der Umstand nichts, daß die Höhe der gesondert festzustellenden Einkünfte des Klägers aus seiner freiberuflichen Tätigkeit im Revisionsverfahren nicht mehr streitig ist. Denn Streitgegenstand der vorliegenden Anfechtungsklage ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH nicht das einzelne Besteuerungsmerkmal, sondern die Rechtmäßigkeit des die Steuer festsetzenden Steuerbescheides (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. Juli 1967 GrS 1/66, BFHE 91, 393, BStBl II 1968, 344; vom 26. November 1979 GrS 1/78, BFHE 129, 117, BStBl II 1980, 99).

Zu den zwischen den Beteiligten ferner streitigen Fragen weist der Senat auf die BFH-Urteile vom 14. Dezember 1994 X R 74/91 (BFHE 176, 117, BStBl II 1995, 259; zur Frage der Anwendbarkeit des § 10 e Abs. 1 neben § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG) und vom 31. Oktober 1991 X R 9/91 (BFHE 166, 85, BStBl II 1992, 241; zur Anwendbarkeit des § 34 f Abs. 2 EStG) hin.

 

Fundstellen

BFH/NV 1996, 404

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