Leitsatz (amtlich)

Einkünfte über 7 200 DM, die ein Kind in einem Veranlagungszeitraum hatte, stehen nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG der Gewährung eines Kinderfreibetrages an die Eltern auch dann entgegen, wenn die Einkünfte dem Kind erst nach Abschluß der Ausbildung in diesem Veranlagungszeitraum zugeflossen sind und demzufolge für die Kosten des Unterhalts während der Ausbildung nicht zur Verfügung standen.

 

Normenkette

EStG 1965 § 32 Abs. 2 Nr. 2

 

Tatbestand

Der Kläger (Revisionsbeklagter und Steuerpflichtiger) begehrte bei der Einkommensteuerveranlagung 1965 für seinen im September 1938 geborenen Sohn einen Kinderfreibetrag gemäß § 32 Abs. 2 Nr. 2 a, aa EStG 1965. Der Sohn studierte im Streitjahr bis Anfang Mai auf Kosten des Klägers an einer technischen Hochschule und verdiente 600 DM während der Semesterferien im Februar/März 1965. Am 4. Mai 1965 legte er die Diplomprüfung ab. Der Bruttoverdienst des Sohnes nach Abschluß seiner Ausbildung betrug 8 723,25 DM.

Der Beklagte (Revisionskläger und FA) versagte den beantragten Kinderfreibetrag mit der Begründung, daß die Einkünfte des Sohnes im Veranlagungszeitraum 1965 den Betrag von 7 200 DM überschritten hätten (§ 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG). Der Einspruch hiergegen blieb erfolglos.

Das FG gab der Klage mit dem in EFG 1971, 134 veröffentlichten Urteil statt. Es führte aus: Der Wortlaut des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG spreche zwar im Streitfall gegen die Gewährung eines Kinderfreibetrages. Die wortgemäße Interpretation führe indes zu einem sinnwidrigen Ergebnis. Deshalb sei im Streitfall eine abändernde Rechtsfindung im Wege der Restriktion geboten. Der Gesetzgeber habe offensichtlich nicht an den - im Jahre der Beendigung der Berufsausbildung nicht seltenen - Fall gedacht, daß mindestens vier Monate lang ein wirtschaftliches Bedürfnis für die Kostentragung des Unterhalts und der Ausbildung durch die Eltern zwingend notwendig bestehen könne und die Kindeseinkünfte im restlichen Veranlagungszeitraum dennoch 7 200 DM übersteigen könnten. Der Gesetzgeber habe durch die Einfügung des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG nicht die Rechtsstellung von Eltern verschlechtern wollen, bei denen ein wirtschaftliches Bedürfnis für die überwiegende Kostentragung während mindestens vier Monaten des Veranlagungszeitraums tatsächlich bestanden habe.

Mit der - wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen - Revision rügt das FA fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG und beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

Nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG 1965 ist u. a. Voraussetzung für die Gewährung eines Kinderfreibetrages, daß die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes, die zur Bestreitung seines Unterhalts oder seiner Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, im Veranlagungszeitraum nicht mehr als 7 200 DM betragen haben. In Schrifttum und Rechtsprechung ist es umstritten, ob der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG zu versagen ist, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes erst nach Abschluß der Ausbildungszeit angefallen und tatsächlich nicht für den Unterhalt oder die Berufsausbildung des Kindes verwendet worden sind und auch nicht verwendet werden konnten (für die Gewährung eines Freibetrages: Seithel, DStR 1966, 303; Knäulein, StB 1969, 213; dagegen: Hartz, DB 1971, 1333; Herrmann-Heuer, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, § 32 EStG, Anm. 23/24; Littmann, Das Einkommensteuerrecht, 10. Aufl., § 32 Anm. 28b EStG; Urteil des FG Baden-Württemberg - Außensenate Stuttgart - VI 95/67 vom 9. Mai 1968, EFG 1969, 18; Urteil des FG München II 115/68 vom 4. August 1970, EFG 1971, 135).

Die Vorinstanz hat zutreffend angenommen, daß die Auslegung vom Wortlaut des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG auszugehen hat. Der Wortlaut der durch das StÄndG 1964 (BGBl I 1964, 885, BStBl I 1964, 553) eingefügten Einschränkung gibt aber keinen Anhalt dafür, daß die Einkünfte und Bezüge des Kindes während dessen Ausbildungszeit zur Bestreitung seines Unterhalts oder seiner Berufsausbildung verfügbar gewesen sein müßten. Der Wortlaut des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG stellt vielmehr nur auf die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Veranlagungszeitraum ab. Dem Wortlaut der Vorschrift läßt sich - wie das FG zutreffend ausgeführt hat - nicht entnehmen, daß die Einkünfte und Bezüge innerhalb des Viermonatszeitraumes, in dem die Eltern die Aufwendungen überwiegend getragen haben, für den Unterhalt oder die Berufsausbildung des Kindes verwendet worden oder auch nur verfügbar gewesen sein müßten.

Das vom Kläger begehrte Ergebnis ist - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - nicht durch teleologische Restriktion oder Reduktion zu erreichen. Die sogenannte teleologische Restriktion ist eine in der Rechtslehre (vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 296 f.) und in der Rechtsprechung des BFH (Urteil IV 26/62 S vom 21. Februar 1964, BFH 78, 490, BStBl III 1964, 188) anerkannte Methode der Rechtsfindung. Voraussetzung für eine abändernde Rechtsfindung im Wege der Restriktion ist das Vorliegen einer verdeckten Regelungslücke. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht gegeben. Die einschränkende Regelung des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG ist auf Vorschlag des Finanzausschusses des Bundestages in das StÄndG 1964 (a. a. O.) eingefügt worden. Anlaß hierfür war die Entscheidung des Senats VI 72/63 U vom 10. Januar 1964 (BFH 79, 10, BStBl III 1964, 237). Danach stand den Eltern der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 a, bb EStG 1958 auch dann zu, wenn das Kind zwar erhebliche eigene Einkünfte oder ein erhebliches eigenes Vermögen hatte, aus dem es die Kosten seines Unterhalts oder seiner Ausbildung hätte selbst bestreiten können, die Eltern aber tatsächlich im wesentlichen die Kosten des Unterhalts und der Berufsausbildung aus ihren eigenen Mitteln bestritten haben. Dies erschien dem Finanzausschuß in den Fällen nicht befriedigend, in denen das Kind "so hohe Einkünfte hat, daß ein wirtschaftliches Bedürfnis für die Gewährung des Kinderfreibetrages nicht anerkannt werden kann" (Begründung zum StÄndG 1964, Bundestagsdrucksache IV/2617 S. 6). Dementsprechend hat der Gesetzgeber das wirtschaftliche Bedürfnis für die Gewährung eines Kinderfreibetrages in den Fällen des § 32 Abs. 2 Nr. 2 EStG - in typisierender Weise - von der Höhe des Jahreseinkommens des Kindes abhängig gemacht. Diese Typisierung dient dem Zweck, im Interesse einer möglichst einfach zu handhabenden Vorschrift auf die Nachprüfung der Besonderheiten des Einzelfalles zu verzichten. Daß das Gesetz auf den Jahresbetrag der Einkünfte und Bezüge des Kindes abstellt, steht mit dem Charakter der Einkommensteuer als Jahressteuer in Einklang. Liegen die Einkünfte und Bezüge des Kindes über 7 200 DM, so ist den Eltern der Kinderfreibetrag in jedem Fall zu versagen, selbst wenn die Einkünfte des Kindes im Einzelfall nicht für dessen Unterhalt oder Ausbildung verwendet wurden und auch nicht verwendet werden konnten, etwa weil das Kind die Einkünfte erst nach Abschluß seiner Ausbildung erzielt hat. Diese Auffassung wird bestätigt durch die - zur gleichmäßigen Behandlung der veranlagten Einkommensteuerpflichtigen und Lohnsteuerpflichtigen ergangenen - Regelung in den §§ 18a Abs. 4 Nr. 1, 18a Abs. 5, 18b Abs. 1 letzter Satz und 28a Abs. 1 Nr. 1 LStDV 1965. Nach § 18a Abs. 4 LStDV 1965 ist der Arbeitnehmer verpflichtet, die Berichtigung seiner Lohnsteuerkarte zu beantragen, wenn sich erst im Laufe eines Kalenderjahres ergibt, daß die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes, die zur Bestreitung seines Unterhalts und seiner Ausbildung bestimmt oder geeignet sind, den Betrag von 7 200 DM übersteigen werden. Diese Regelung betrifft insbesondere auch den hier vorliegenden Fall, daß die Einkünfte des Kindes während der noch andauernden Berufsausbildung in den ersten Monaten des Jahres nur gering sind und erst im weiteren Verlauf des Kalenderjahres - etwa nach Abschluß der Ausbildung - so steigen, daß die Jahresgrenze von 7 200 DM überschritten wird. Diese und die anderen oben im einzelnen angeführten Vorschriften der LStDV 1965, die den Besonderheiten des Lohnsteuerverfahrens Rechnung tragen, zeigen deutlich, daß die möglichen Auswirkungen der einschränkenden Regelung des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG bekannt waren. Damit verbietet es sich jedoch, eine verdeckte Regelungslücke anzunehmen, die durch teleologische Restriktion geschlossen werden dürfte. Da der Kinderfreibetrag auch dann für das ganze Kalenderjahr gewährt wird, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur vier Monate vorgelegen haben, erscheint es nicht ungerechtfertigt, bei der Ermittlung der Grenze des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG von dem Jahresbetrag der Einkünfte und Bezüge unabhängig vom Zeitpunkt ihres Zuflusses auszugehen. Der Senat verkennt nicht, daß die einschränkende Regelung des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG in Einzelfällen zu nicht in jeder Hinsicht befriedigenden Ergebnissen führen kann. Dies hat jedoch der Gesetzgeber im Interesse einer klaren und möglichst einfach zu handhabenden Regelung in Kauf genommen und in Kauf nehmen dürfen.

Die Vorentscheidung, die von einer anderen Rechtsauffassung ausgeht, war aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Da die Einkünfte des Sohnes im Veranlagungszeitraum 1965 nach den vom Kläger nicht angegriffenen Feststellungen des FA und des FG 7 200 DM überschritten haben, ist dem Kläger vom FA zu Recht ein Kinderfreibetrag gemäß § 32 Abs. 2 Nr. 2 a, aa EStG nicht gewährt worden.

 

Fundstellen

BStBl II 1973, 142

BFHE 1973, 444

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