Leitsatz (amtlich)

Zur Feststellung der Tatsachen, ob sich ein "Gebäude im Zustand der Bebauung" befindet. Eine bauaufsichtliche Ordnungsverfügung, die den Bezug von Wohnungen untersagt, kann zwar ein Indiz dafür sein, daß die Wohnungen in einem Gebäude nicht bezugsfertig sind und das Gebäude nicht fertiggestellt im Sinne von § 1 Nr. 4 GrEStWoBauG-NW 1958 ist; sie erlaubt aber keinen zwingenden Schluß in dieser Richtung.

 

Normenkette

GrEStWoBauG-NW 1958 § 1 Nr. 4

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) haben am 28. April 1969 einen notariell beurkundeten Vertrag über den Kauf eines Grundstücks abgeschlossen, wonach der Kläger einen Anteil von 3/4 und die Klägerin einen Anteil von 1/4 erwarb. Der Vertrag wurde später teilweise durch die Vereinbarung vom 20. Mai 1969 und durch die Erklärung vom 20. Juni 1969 geändert. Die Kläger beantragten Grunderwerbsteuerfreiheit, weil es sich um den Erwerb eines Grundstücks im Zustand der Bebauung zur Fertigstellung eines Gebäudes gehandelt habe, das zu mehr als 66 2/3 v. H. steuerbegünstigte Wohnungen enthalten werde. Das FA setzte die Grunderwerbsteuern zuerst vorläufig, später endgültig fest, weil sich das auf dem Grundstück befindliche Gebäude mit acht Geschossen und 72 Wohnungen nicht mehr im Zustand der Bebauung befunden habe und daher die Steuerbefreiung gemäß § 1 Nr. 4 des Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung für den Wohnungsbau (i. d. F. vom 19. Juni 1958, Gesetz- und Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen 1958, 282, BStBl II 1958, 105) - GrEStWoBauG-NW 1958 - nicht eingreife.

Der Einspruch blieb erfolglos.

Auf die Klagen hob das FG die Steuerbescheide vom 18. Juni 1974 auf. Das FG erachtete das von den Klägern erworbene Gebäude als im Erwerbszeitpunkt noch nicht bezugsfertig, weil "der Bezug der noch nicht bezogenen Wohnungen durch eine am Tage vor dem Grunderwerb der Kläger ergangene Verfügung des Bauordnungsamtes untersagt worden war."

Hiergegen richtet sich die Revision des FA, mit der Verletzung der Vorschrift des § 1 Nr. 4 GrEStWoBauG-NW vom 19. Juni 1958 gerügt wird.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

1. Von der Besteuerung nach dem GrEStG ist gemäß § 1 Nr. 4 GrEStWoBauG-NW 1958 u. a. der Erwerb eines Grundstücks ausgenommen, das sich im Zustand der Bebauung befindet, zur Fertigstellung von Gebäuden, die den Erfordernissen der Begünstigung des sozialen Wohnungsbaus entsprechen. Die Vorschrift dient der Förderung des sozialen Wohnungsbaues. Durch sie soll die Fertigstellung "bei angefangenen und steckengebliebenen" Bauten erleichtert (vgl. Landtag von Nordrhein-Westfalen, 3. Wahlperiode, 81. Sitzung Bd. III S. 2849), nicht aber das Steckenbleiben von Bauten angeregt werden, damit diese dann im Stadium kurz vor Vollendung steuerbegünstigt weiterveräußert werden, also Handel mit nicht fertiggestellten Gebäuden getrieben wird.

Der Regelung durch § 1 Nr. 4 GrEStWoBauG-NW 1958 liegt, wie sich aus ihrem Gesamtzusammenhang (Zweck und systematische Stellung der Vorschrift, Nachversteuerungstatbestand) ergibt und was auch in der Begründung des Gesetzesvorschlags ausgesprochen wird, die Vorstellung zugrunde, daß entweder der Erwerber eines unbebauten Grundstücks, der die Bedingungen des sozialen Wohnungsbaus erfüllt, in den Genuß der Begünstigung gelangt (vgl. § 1 Nr. 1 GrEStWoBauG-NW 1958) oder, wenn es ihm mißlingt, den Begünstigungstatbestand zu verwirklichen, daß dann der nachfolgende Grundstückserwerber, der den steckengebliebenen Bau fristgerecht fertigstellt, in den Genuß der Begünstigung kommt (§ 1 Nr. 4 GrEStWoBauG-NW 1958).

In der Begründung des Gesetzesvorschlags heißt es dazu (vgl. NW-Landtagsdrucksache Nr. 643 vom 20. Januar 1958 S. 11 f.):

"Häufig werden Grundstücke, die zunächst nach § 1 Ziffern 1 oder 3 des Gesetzes vom 4. März 1952 grunderwerbsteuerfrei erworben worden sind, infolge Erschöpfung der finanziellen Mittel von Bauwilligen im Zustand der Bebauung weiterveräußert. Der Erwerber eines solchen Grundstücks hat dann das Gebäude zunächst fertigzustellen. Im Verwaltungsweg ist bereits bisher der Erwerb eines Grundstücks im Zustand der Bebauung bezüglich des Wertes des Grund und Bodens von der Grunderwerbsteuer freigestellt worden. Diese Regelung, die sich bewährt hat, soll in das Gesetz übernommen werden. Da das Gesetz nur den Erwerb von unbebauten Grundstücken, von Grundstücken mit zerstörten Gebäuden oder mit zu mehr als 50 v. H. beschädigten Gebäuden von der Grunderwerbsteuer freistellt, muß auch die Teilbefreiung des Erwerbs von Grundstücken im Zustand der Bebauung darauf abgestellt werden, daß es sich bei den erworbenen Grundstücken vor dem Baubeginn um die vorbezeichneten Grundstücksgruppen gehandelt hat. Der Erwerb soll in dem gleichen Umfang steuerfrei bleiben, wie er vor Baubeginn freigewesen ist bzw. freigewesen wäre.

Durch die Weiterveräußerung des im Zustand der Bebauung befindlichen Grundstücks verwendet der Bauwillige, der den Grundbesitz vor Baubeginn erworben hat, das Grundstück nicht zum steuerbegünstigten Zweck. Für seinen Erwerb ist deshalb die Grunderwerbsteuer nach § 3 des Gesetzes nachzuerheben."

Die Begünstigung ist danach u. a. abhängig davon, ob sich das erworbene Gebäude noch im Zustand der Bebauung befindet.

Ein Grundstück befindet sich zwar stets im Zustand der Bebauung, wenn und solange der Verfügungsberechtigte die Absicht hat, das Grundstück weiterzubebauen und er diese Absicht fortlaufend verwirklicht (vgl. Urteil des BFH vom 24. September 1975 II R 161/70, BFHE 117, 285, BStBl II 1976, 163), aber nicht mehr, wenn das Gebäude bereits fertiggestellt ist.

Die Fertigstellung des Gebäudes kann beispielsweise darin bestehen, daß noch nicht bezugsfertige Wohnungen in den Zustand der Beziehbarkeit versetzt werden, oder daß- wie bei der abschnittweisen Errichtung eines Gebäudes, bei der schon beziehbare Wohnungen erstellt sind - weitere Bauabschnitte durchgeführt werden (vgl. Urteil des BFH vom 9. Mai 1967 II 68/63, BFHE 88, 567, BStBl III 1967, 493).

Soll ein Gebäude ausschließlich Wohnungen enthalten, die den Vorschriften für den sozialen Wohnungsbau entsprechen, ist das Gebäude im Sinne des § 1 Nr. 4 GrESt-WoBauG-NW 1958 regelmäßig erst dann fertiggestellt, wenn auch die letzte Wohnung bezugsfertig geworden ist. Die Begünstigung kann in solchen Fällen nur dem zustehen, der den Begünstigungstatbestand in seiner Person abschließend verwirklicht.

Die Frage, ob eine Wohnung bezugsfertig erstellt ist, entscheidet sich danach, ob das Beziehen dieser Wohnung nach objektiven Merkmalen zumutbar ist. Wird eine Wohnung tatsächlich bezogen, spricht dieser Umstand dafür, daß diese Wohnung zu diesem Zeitpunkt bezugsfertig war. Dieser Schluß ist aber nicht zwingend und daher widerlegbar. Auf die Abnahme der Wohnung durch die Bauaufsichtsbehörde kommt es jedenfalls nicht an (vgl. Urteil des BFH vom 26. Juni 1970 III R 56/69, BFHE 100, 9, BStBl II 1970, 769). Mit der Zumutbarkeit des Bezugs der Wohnungen ist ein Gebäude im Sinne von § 1 Nr. 1 GrEStWoBauG-NW 1958 fertiggestellt, mögen auch noch weitere Arbeiten an dem Bau vorgenommen werden oder/und nach dem Plan erforderlich sein. Der Abschluß des Zustandes der Bebauung ist begrifflich in diesem Sinne die Fertigstellung des Gebäudes.

Im vorliegenden Fall tragen die tatsächlichen Feststellungen des FG nicht die von ihm getroffene Entscheidung.

Das FG ist zwar von rechtlichen Überlegungen ausgegangen, die - soweit erkennbar - von den vorerwähnten Grundsätzen nicht abweichen; es hat aber keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, die dem Senat die Nachprüfung ermöglichen, ob es diese Grundsätze rechtsfehlerfrei auf den Sachverhalt angewendet hat. Es hat zwar die Anordnung des Bauordnungsamtes vom 28. April 1969 gewürdigt, aber keine eigenen tatsächlichen Feststellungen zur Fertigstellung des Gebäudes getroffen. Eine bauaufsichtliche Ordnungsverfügung kann zwar ein Indiz dafür abgeben ob die Wohnungen in einem Gebäude bezugsfertig erstellt sind oder nicht. Sie erlaubt aber keinen zwingenden Schluß in dieser Richtung und auch nicht in bezug auf die Tatsache, ob ein Gebäude im Sinne des § 1 Nr. 4 GrEStWoBauG-NW 1958 als fertiggestellt zu beurteilen ist. Eine bauaufsichtsrechtliche Ordnungsverfügung kann fehlerhaft sein; sie kann den Bezug verbieten, um Auflagen durchzusetzen, die weder die Bezugsfertigkeit im Sinne der Vorschriften des sozialen Wohnungsbaues noch die Fertigstellung eines Gebäudes in diesem Sinne berühren. Eine solche Verfügung schafft jedenfalls nicht die unwiderlegliche Vermutung, daß nach dem Bauzustand der Bezug unzumutbar war, und enthebt somit nicht das FG der Verpflichtung, selbst die erforderlichen Tatsachenfeststellungen zu treffen.

Das FA hat zwar nicht in einer Weise, wie sie erforderlich gewesen wäre, die Tatsachen ermittelt oder dargetan oder Beweisanträge gestellt, aus denen sich ergibt, daß der Veräußerer ein Gebäude im Sinne der Begünstigungsvorschrift fertiggestellt hatte. Diese Unterlassung bewirkt aber nicht, daß der Erwerb der Kläger folglich der eines steckengebliebenen Baues hätte sein müssen.

Die Beteiligten haben zu der entscheidenden Tatsache der Fertigstellung des Gebäudes eine Reihe von tatsächlichen Behauptungen aufgestellt, hinsichtlich derer zu prüfen war, ob sie zutreffen, und ggf. wie sie zu würdigen sind.

Weder ist festgestellt, welche Wohnungen nicht bezogen und wie diese Wohnungen zugänglich waren, noch ob der Bezug gerade dieser nicht bezogenen Wohnungen nach dem Bauzustand unzumutbar war - etwa, weil mit ihrem Zugang noch zu ermittelnde konkrete Gefahren verbunden waren -. Es ist auch nicht festgestellt, ob der Verkäufer nicht in der Lage war, den Bau fertigzustellen, und ob, wie das FA behauptet hat, nur leicht behebbare Mängel zu beseitigen waren, für die ein im Verhältnis zum Gesamtbauvorhaben tatsächlich nur ganz geringfügiger Betrag von rd. 2 000 DM erforderlich war, um die bauaufsichtliche Ordnungsverfügung zu erfüllen. Ebenfalls nicht festgestellt ist, was das Bauordnungsamt mit seiner Verfügung bezweckt hat. Das FG wird alle Merkmale dahin zu würdigen haben, ob der Bau im Hinblick auf die Zumutbarkeit des Bezugs seiner Wohnungen als fertiggestellt im Sinne des § 1 Nr. 4 GrEStWo-BauG-NW 1958 zu gelten hatte.

Unerheblich wäre, ob und ggf. in welchem Umfang der Käufer die Bauarbeiten Dritter abgelten mußte und welche weiteren Finanzierungskosten nach dem Erwerb anfielen.

Der Senat teilt nicht die Auffassung des FA, daß es für die erforderliche Abgrenzung der vom Gesetz vorgesehenen Förderungsfälle zu denen, die nicht begünstigt werden sollten, darauf abgestellt werden kann, ob der Erwerber als Kaufpreis "mehr als etwa 90 v. H. eines Gesamtkaufpreises" zahlen muß oder andernfalls noch in der Lage sein müßte, "Bauherr" werden zu können, wie in den Weisungen der OFD Düsseldorf vom 4. Januar 1972 (S 4509 A - St 221, DVStR 1972, 94) ausgesprochen wird.

Andererseits kann es nicht den Vereinbarungen desjenigen, der den Bau begonnen und die Fertigstellung nahezu abgeschlossen hat, mit demjenigen, der Grundstück mit Gebäude erwerben will, überlassen bleiben, den Zustand eines steckengebliebenen Gebäudes vertraglich herbeizuführen, ohne daß es sich um einen objektiv steckengebliebenen Bau handelt. Dies aber könnte dann der Fall sein, wenn die geringfügigen noch durchzuführenden Baumaßnahmen die Zumutbarkeit des Bezugs der Wohnungen nicht hinderten. Mangels Feststellungen, daß der Bezug der Wohnungen unter Abwägung aller für eine solche Entscheidung zu ermittelnden und zu beurteilenden Umstände in tatsächlicher Hinsicht nicht zumutbar war, ist der Senat nicht in der Lage, die Vorentscheidung darauf zu prüfen, ob sie rechtsfehlerfrei ist.

Die Vorentscheidung war demzufolge aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72290

BStBl II 1977, 437

BFHE 1977, 538

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