Leitsatz (amtlich)

Eine Divergenz im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO liegt auch vor, wenn das FG von einer ihm noch nicht bekanntgewordenen Entscheidung des BFH abweicht.

 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2

 

Tatbestand

Das FG beschloß aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. März 1969 ein Urteil, das den Beteiligten am 22. bzw. am 23. April 1969 zugestellt wurde. Es gab darin der Klage der Sache nach teilweise statt, hob jedoch den angefochtenen Einkommensteuerbescheid auf, ohne selbst die Steuer zu berechnen.

Das FA beabsichtigt, dieses Urteil mit der Revision anzufechten. Der Streitwert für die Revision ist nicht erreicht. Das FA beantragt, die Revision zuzulassen, weil das FG von der Entscheidung des Großen Senats des BFH Gr. S. 3/68 vom 16. Dezember 1968 (BFH 94, 436, BStBl II 1969, 192) abgewichen sei und das Urteil auf der Abweichung beruhe (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Beschwerde ist begründet.

Nach dem genannten Beschluß des Großen Senats des BFH steht es nicht im Ermessen des FG, im Falle einer (teilweise oder in vollem Umfange) begründeten Klage den Steuerbescheid insgesamt, d. h. also auch über die durch den Klageantrag festgelegte Grenze hinaus, aufzuheben und die Steuerfestsetzung dem FA zu überlassen. Das FG muß vielmehr in der Regel die Steuer selbst festsetzen.

Im vorliegenden Falle, in dem das FG sogar die Einkünfte selbst neu berechnete und nur die Anwendung der Steuertabelle dem FA überließ, bestand kein Anlaß für eine Ausnahme von dem im Beschluß des Großen Senats ausgesprochenen Grundsatz. Das Urteil des FG steht daher in Widerspruch zum Beschluß des Großen Senats, und es beruht auch auf der Abweichung; denn bei Beachtung der Rechtsprechung des Großen Senats hätte der Steuerbescheid nicht in vollem Umfange beseitigt, sondern nur abgeändert werden können.

Die Voraussetzungen einer Divergenz im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO liegen auch dann vor, wenn - was hier möglich ist - dem FG z. Z. des Erlasses des anzufechtenden Urteils die Entscheidung des BFH noch nicht bekannt war.

Das BVerwG (MDR 1954, 652 und NJW 1960, 594) und ihm folgend der weitaus überwiegende Teil der Literatur (vgl. Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., § 132 C 1c mit Nachweisen und Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 2./3. Aufl., Anm. 6 zu § 115 FGO) stehen sogar auf dem Standpunkt, daß eine Divergenz selbst dann vorliegt, wenn die Entscheidung des obersten Gerichts erst nach Erlaß des anzufechtenden Urteils ergeht. Es braucht hier nicht geprüft zu werden, ob dieser Ansicht zugestimmt werden kann, die vom BAG (NJW 1956, 1175, und BAGE 4, 186) und vom BGH (Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 1 zu § 24 LwVG) - allerdings in einem Falle, in dem es um die Frage ging, ob eine z. Z. der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde bestehende Divergenz durch eine spätere, mit der der unteren Instanz übereinstimmende Entscheidung des BGH beseitigt und also die Nichtzulassungsbeschwerde nachträglich unzulässig werden könne - nicht geteilt wird. Denn hier war der Beschluß des Großen Senats des BFH bereits ergangen, als das FG sein Urteil fällte. Das finanzgerichtliche Urteil war frühestens am 19. März 1969 beschlossen worden. Zu diesem Zeitpunkt lag der Beschluß des Großen Senats bereits vor, und zwar selbst, wenn man vom Zeitpunkt seiner Zustellung ausgeht, die, wie der Senat feststellte, am 24. Februar 1969 erfolgte. Das FG wich also von einer bereits ergangenen Entscheidung des BFH ab. Ob sie ihm bekannt war, ist ohne Bedeutung. Man könnte sich mit dem BVerwG durchaus auf den Standpunkt stellen, daß im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Rechtssicherheit ein Klarstellen des Revisionsurteils ebenso erforderlich erscheint, wenn das FG von einer später geäußerten Ansicht des BFH abweicht, als wenn es von einer früheren Entscheidung des BFH abgewichen wäre. Jedenfalls aber besteht ein Bedürfnis für die Zulassung dann, wenn die Entscheidung des FG nach einer klärenden Entscheidung des BFH erging. Demgemäß bestimmt § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO auch nicht, daß das FG von einer ihm bekannten Entscheidung des BFH abgewichen sein muß, sondern es läßt die objektive Abweichung genügen.

Bei dieser Sachlage bedurfte es keiner Vorlage an den gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe, weil sich die Ausführungen des BGH und des BAG nur auf die Fälle beziehen, in denen eine Entscheidung des obersten Gerichts erst nach Erlaß des anzufechtenden Urteils ergeht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68736

BStBl II 1970, 251

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