Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Beantragte das FA nach § 243 Abs. 3 AO a. F. im Berufungsverfahren eine Steuererhöhung und unterließ der fachkundig vertretene Steuerpflichtige, die ihm gegebene Gelegenheit zur Stellungnahme oder Rechtsmittelrücknahme auszunutzen, so brauchte das FG die Möglichkeit der Verböserung nicht noch ausdrücklich mitzuteilen.

Wurde ein Urteil vor dem Inkrafttreten der FGO beschlossen und unterzeichnet, aber erst nach Inkrafttreten der FGO zugestellt, so waren für das finanzgerichtliche Verfahren noch die Vorschriften der AO a. F. maßgebend; die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen das Urteil richtet sich dagegen nach der FGO.

 

Normenkette

AO § 243 Abs. 3; FGO § 184 Abs. 2 Ziff. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3

 

Tatbestand

Auf Grund einer Betriebsprüfung erließ das Finanzamt (FA) gegen die Bf. (Steuerpflichtigen - Stpfl. -) Berichtigungsbescheide für die Jahre 1958 bis 1960. Die Berufung führte für das jetzt allein noch im Streit befindliche Jahr 1960 zu einer Verböserung. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) wurde am 19. November 1965 beschlossen und am 3. Februar den Stpfl. zugestellt. Mit der auf § 115 Abs. 2 Ziff. 3 FGO gestützten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, der das FG nicht abgeholfen hat, rügen die Stpfl. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das FG habe die Verböserungsabsicht nicht vorher mitgeteilt. Es habe auch die Vorschriften der §§ 90 und 96 FGO nicht berücksichtigt, obwohl diese bereits vor der Bekanntgabe des Urteils in Kraft getreten seien.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist nicht begründet. Die erhobenen Verfahrensrügen sind nicht gerechtfertigt.

Der Senat hat im Urteil I 372/62 vom 2. Februar 1966, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 85 S. 234 - BFH 85, 234 -, BStBl III 1966, 294, ausgesprochen, daß die Rechtsmittelbehörden wegen des Gebots des rechtlichen Gehörs vor der Entscheidung auf die Möglichkeit (nicht auf die Absicht) einer Verböserung hinweisen mußten, ein ausdrücklicher Hinweis aber unterbleiben konnte, wenn er lediglich eine überflüssige Formalie bedeutete. Er hat das Vorliegen dieser Voraussetzung für das Unterlassen des Hinweises bejaht, weil das FA im Berufungsverfahren die Erhöhung des Gewinns ausdrücklich beantragt hatte, der Steuerpflichtigen der Schriftsatz übersandt worden war und diese zu dem Antrag Stellung genommen hatte, ihr also bewußt war, daß es zu einer änderung des Steuerbescheids zu ihrem Nachteil kommen konnte. Die Mitteilung der Verböserungsmöglichkeit habe den Steuerpflichtigen vor unvorhersehbaren überraschungen schützen und in den Stand setzen sollen, die Steuererhöhung durch Zurücknahme des Rechtsmittels zu vermeiden.

Im Streitfall hatte das FA ebenfalls (mit seinen Schriftsätzen vom 5. August 1964) eine zahlenmäßig bestimmte Verböserung ausdrücklich beantragt. Das FG hatte die Zweitschrift der Schriftsätze dem Vertreter der Stpfl. zur äußerung übersandt. Der Sachverhalt unterscheidet sich von dem des Urteils I 372/62, a. a. O., lediglich dadurch, daß die Stpfl. im Streitfall keine Stellungnahme abgegeben haben. Sie hatten dazu aber ausreichend Gelegenheit; das FG hat erst im November 1965 entschieden, nachdem es im August 1965 nochmals eine Frist zur Stellungnahme gesetzt hatte. Die Stpfl. wurden durch einen Steuerbevollmächtigten, also fachkundig vertreten. Nach dem eingehend und zahlenmäßig begründeten Antrag des FA auf Verböserung mußte es ihnen klar sein, daß die Fortsetzung des Verfahrens zu einer Verböserung führen könnte. Die Verböserung konnte für sie nicht mehr überraschend kommen, und sie hatten Gelegenheit, die Erhöhung der Steuerfestsetzung durch Zurücknahme der Berufung für das Jahr 1960 auszuschließen. Ein ausdrücklicher Hinweis des FG auf die Möglichkeit der Verböserung hätte bei dieser Sachlage eine überflüssige Formalität bedeutet. Durch das Unterbleiben wurde keine Verfahrensregel, insbesondere nicht der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Das Recht auf Gehör besteht darin, daß den Beteiligten Gelegenheit zu geben ist, sich zu den entscheidungstragenden Tatsachen und Beweismitteln vor der Entscheidung zu äußern (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - 1 BvR 612/52 vom 18. September 1952, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - Bd. 1 S. 418 (429), und 2 BvR 396/52 vom 18. Dezember 1962, BVerfGE Bd. 15 S. 214). Die entscheidende Stelle muß die abgegebenen äußerungen zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen (Beschluß des BVerfG 2 BvR 96/60 vom 14. Juni 1960, BVerfGE Bd. 11 S. 218 (220)). Macht ein Beteiligter keinen Gebrauch von der ihm gegebenen Möglichkeit, sich zum Vorbringen des Gegners zu äußern, so kann er sich nicht auf Verletzung des rechtlichen Gehörs berufen.

Das Urteil des FG wurde am 19. November 1965 beschlossen und ausweislich der Akten vor dem 31. Dezember 1965 unterschrieben. Zu dieser Zeit war die FGO noch nicht in Kraft getreten. Nach den damals geltenden Vorschriften der AO bildete die Entscheidung bis zur Verkündung oder Bekanntgabe zwar eine innere Angelegenheit des Gerichts, so daß z. B. eine änderung der Entscheidung möglich blieb (Urteil des BFH IV 295/59 S vom 21. Februar 1964, BFH 79, 294, BStBl III 1964, 338). Andererseits kam aber durch die Unterzeichnung der Entscheidung das Verfahren, soweit die Beteiligten darauf durch Prozeßhandlungen einwirken konnten, zum Abschluß. Das ergibt sich daraus, daß damals nur bis zu diesem Zeitpunkt nach § 253 AO a. F. das Rechtsmittel zurückgenommen und nach den BFH-Urteilen IV 295/59 S a. a. O., und I 94/56 U vom 27. November 1956 (BFH 64, 80, BStBl III 1957, 30) mündliche Verhandlung beantragt werden konnte. Das Verfahren während dieses Abschnitts konnte sich nur nach der damals geltenden Verfahrensordnung, also den Bestimmungen der AO, richten, nicht aber nach der erst später in Kraft getretenen FGO. Die Zustellung des Urteils nach dem 1. Januar 1966 bewirkte nicht, daß die Rechtmäßigkeit des durch Urteilsfällung und Unterzeichnung bereits vor dem 1. Januar 1966 abgeschlossenen Verfahrensabschnitts nach den Vorschriften der FGO zu beurteilen ist, sondern hatte nach § 184 Abs. 2 Ziff. 2 FGO nur zur Folge, daß für die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen die FGO maßgebend ist. Deshalb ist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nach § 115 FGO statthaft, obwohl die angegriffene Entscheidung bereits vor Inkrafttreten der FGO beschlossen und unterzeichnet wurde.

Nach der AO lag die Anordnung der mündlichen Verhandlung im Ermessen des FG (§ 272 AO a. F.). Die Stpfl. hatten von der Möglichkeit, mündliche Verhandlung zu beantragen, keinen Gebrauch gemacht. Die Vorinstanz konnte nach Aktenlage die Sache als entscheidungsreif ansehen. Sie hatte deshalb keine Veranlassung, mündliche Verhandlung anzuberaumen. In der Nichtanberaumung lag somit kein Verfahrensmangel.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412254

BStBl III 1966, 660

BFHE 86, 749

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