Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Der VI. Senat des Bundesfinanzhofs leitet das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ein zur Prüfung der Frage, ob § 27 EStG 1958 betreffend die Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 GG zu vereinbaren ist.

 

Normenkette

EStG § 27; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6

 

Tatbestand

I. Sachverhalt, Entscheidung des Finanzgerichts, Rechtsbeschwerdebegründung und Stellungnahme des Bundesministers der Finanzen

Die beschwerdeführenden Eheleute haben in der Einkommensteuererklärung für 1958 Zusammenveranlagung nach § 26 b EStG 1958 beantragt, die auch vorgenommen wurde. Streitig ist, ob sie auch mit dem Sohn der Ehefrau aus ihrer ersten Ehe, die durch Scheidung gelöst wurde, zusammen zu veranlagen sind. Der am 18. Dezember 1943 geborene Sohn hatte im Streitjahr 1958 eigene Einkünfte aus dem von seinem Vater im Jahre 1956 ererbten Vermögen, dessen Verwaltung und Nutznießung seiner Mutter entzogen ist. Das Finanzamt hat die beschwerdeführenden Eheleute mit dem Sohn der Ehefrau nach § 27 EStG 1958 zusammen veranlagt. Die Sprungberufung wurde vom Finanzgericht als unbegründet zurückgewiesen.

Das Finanzgericht ging davon aus, § 27 EStG 1958 verstoße nicht gegen das Grundgesetz (GG), sondern sei voll wirksam. Es führte zur Begründung aus:

Das Finanzgericht München habe in einem Urteil vom 19. Dezember 1957 (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1958 S. 171) die Auffassung vertreten, § 27 EStG komme nur selten zur Anwendung, da Kinder unter 18 Jahren im allgemeinen keine eigenen Einkünfte hätten. In den wenigen Fällen, in denen Kinder infolge des Ausschlusses der elterlichen Nutznießung aus einem ihnen (z. B. durch Erbschaft) zugewendeten Vermögen eigene Einkünfte hätten, werde durch eine Zusammenveranlagung dieser Kinder mit ihren Eltern, Stief-, Pflege- oder Adoptiveltern, die vom GG geschützte Institution der Ehe nicht verletzt. § 26 und § 27 EStG unterschieden sich wesentlich. Bei der Zusammenveranlagung von Eheleuten ergäben sich durch die Zusammenveranlagung nach § 26 EStG gegenüber der Zeit vor der Eheschließung steuerliche Nachteile. Bei der Zusammenveranlagung von Eltern mit Kindern gebe es aber in der Regel keinen vergleichbaren steuergünstigeren Zustand. Aber auch in den Fällen, in denen durch Adoption oder Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses durch die Anwendung des § 27 EStG eine Verschärfung der Besteuerung eintrete, sei die Sachlage anders als bei einer Eheschließung; denn die Zusammenveranlagung erfolge nur bis zum 18. Lebensjahr des Kindes, also solange das Kind noch unselbständig und schutzbedürftig sei. Der Bundesfinanzhof sei von der Rechtsgültigkeit des § 27 EStG ausgegangen. Wenn auch die Haushaltsbesteuerung nicht mehr der Kern des Einkommensteuerrechts sei, so könne § 27 EStG nach der geschichtlichen Entwicklung doch nicht als Fremdkörper im System des deutschen Einkommensteuerrechts angesehen werden. Aus dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu § 26 EStG 1951 1 BvL 4/54 vom 17. 1. 1957 (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6 S. 55, BStBl 1957 I S. 193), in dem § 27 EStG lediglich erwähnt sei, könne die Rechtsungültigkeit dieser Vorschrift nicht hergeleitet werden. Der Gesetzgeber habe auch nach der Feststellung der Nichtigkeit des § 26 EStG 1951 an der Zusammenveranlagung der Eltern mit ihren Kindern festgehalten; denn er habe in den das EStG ändernden Gesetzen vom 26. Juli 1957 (BGBl 1957 I S. 848, BStBl 1957 I S. 352) und vom 18. Juli 1958 (BGBl 1958 I S. 473, BStBl 1958 I S. 412) § 27 EStG nicht gestrichen. Wenn Art. 6 GG die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stelle, könne der Gesetzgeber im Rahmen seines Ermessens an die Familienzugehörigkeit steuerliche Folgen knüpfen. Die Entscheidung darüber liege im politischen Bereich der Gesetzgebung. Nur wenn der Gesetzgeber offensichtlich die äußerste Grenze seines Ermessens verletzt habe und eindeutig willkürlich vorgegangen sei, liege ein Verstoß gegen das GG vor. Das sei aber bei der Regelung des § 27 EStG nicht der Fall. Im Gegensatz zu Ehegatten, die eine auf den Grundsätzen der Gleichordnung, Gleichberechtigung und der persönlichen Selbständigkeit gegründete totale Lebensgemeinschaft bildeten, beständen zwischen Eltern und Kindern wegen der Unselbständigkeit und Schutzbedürftigkeit der Kinder ein über- und Unterordnungsverhältnis, dem eine getrennte Veranlagung nicht gerecht werde. Die Zusammenveranlagung stehe im Zusammenhang mit dem System der Kinderermäßigung, die bei Kindern bis zu 18 Jahren ohne Rücksicht darauf gewährt werde, ob für den Unterhalt, die Erziehung und Ausbildung eigene Mittel des Kindes zur Verfügung stünden. Bei einer getrennten Veranlagung der Kinder müsse die Kinderermäßigung neu geregelt werden, was aber Komplizierungen zur Folge hätte. Wollte man von einer Zusammenveranlagung der Eltern mit ihren Kindern absehen, so würde ferner dadurch für einzelne Gruppen von Steuerpflichtigen, z. B. für Gewerbetreibende, die Möglichkeit geschaffen, durch bürgerlich-rechtliche Gestaltung ihren Kindern Einkünfte zuzuwenden und dadurch steuerliche Vorteile zu erlangen, während dies anderen Gruppen von Steuerpflichtigen, insbesondere Arbeitnehmern, nicht möglich wäre.

Die Bf. sind der Auffassung, § 27 EStG 1958 sei wegen Verstoßes gegen Art. 6 GG rechtsungültig. Zur Begründung verweisen sie besonders auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu § 26 EStG 1951. Wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß die Zusammenveranlagung schlechthin als Fremdkörper im System der Individualbesteuerung bezeichnet habe, sei damit auch die Zusammenveranlagung der Eltern mit ihren Kindern unhaltbar geworden. Die gegenteilige Auffassung des Finanzgerichts sei von den Auswirkungen beeinflußt, die sich aus der Feststellung der Rechtsunwirksamkeit des § 27 EStG ergäben. Diese Erwägung sei für die rechtliche Beurteilung jedoch nicht wesentlich. Die Rechtsgültigkeit der Vorschrift könne auch nicht damit begründet werden, daß die durch die Anwendung des § 27 EStG entstehenden Härten nur wenige Familien treffe; denn das GG gewährleiste den Schutz aller Familiengemeinschaften. Außerdem verstoße die Anwendung der Vorschrift in diesen Fällen gegen den Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung. Wenn das Finanzgericht einräume, daß Härten vor allem bei der Anwendung des § 27 EStG auf Stief-, Adoptiv- oder Pflegekinder entstünden, diese Kindschaftsverhältnisse aber keinen besonderen Schutz genössen, so treffe das nicht zu; denn nach bürgerlichem Recht stünden Stief- und Adoptivkinder den ehelichen Abkömmlingen gleich, so daß Art. 6 GG auf sie gleichfalls Anwendung finde. Das Finanzgericht sehe § 27 EStG als "systemwidrig" an. Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen folge daraus die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift, da sie zu einer stärkeren Steuerbelastung führe. Die Progression des Steuertarifs führe bei den Bf. infolge der Zusammenrechnung ihrer Einkünfte mit denen des Sohnes der Ehefrau zu einer wesentlich höheren Steuer. Das verstoße sowohl gegen Art. 6 als auch gegen Art. 3 GG.

Der Bundesminister der Finanzen ist dem Verfahren gemäß § 287 Ziff. 2 AO beigetreten. Er ist der Auffassung, § 27 in der Fassung des EStG 1958 sei nachkonstitutionelles Recht im Sinne von Art. 100 Abs. 1 GG wegen der änderungen, die diese Vorschrift durch Art. 1 Ziff. 23 des Gesetzes zur änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts vom 18. Juli 1958 (BGBl 1958 I S. 473, BStBl 1958 I S. 412) erfahren habe und die zu einer ab 1. Januar 1958 geltenden Neufassung des § 27 EStG geführt hätten. Nach seiner Ansicht ist § 27 EStG 1958 jedoch mit dem GG zu vereinbaren und daher rechtsgültig. Das Bundesverfassungsgericht habe allerdings im Beschluß 1 BvL 4/54 (a. a. O.) im Zusammenhang mit seinen Erörterungen über § 26 EStG 1951 auch § 27 EStG erwähnt. Es habe aber keine Folgerungen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Zusammenveranlagung der Kinder mit dem Haushaltsvorstand gezogen. In dem Beschluß sei vielmehr auf den Unterschied in der Gestaltung beider Tatbestände hingewiesen worden.

Die Stellung des mit dem Haushaltsvorstand zusammen veranlagten Kindes sei innerhalb der unter dem Schutz des Art. 6 GG stehenden Familie eine grundsätzlich andere als die der Ehegatten. Bei Ehegatten bestehe grundsätzlich Gleichberechtigung und Selbständigkeit, bei Eltern und Kindern dagegen Ein- bzw. Unterordnung unter den die elterliche Gewalt ausübenden Elternteil und damit Unselbständigkeit des Kindes. Die Gemeinsamkeit der §§ 26 und 27 EStG erschöpfe sich im wesentlichen in der äußeren Technik und der Progressionswirkung im Steuertarif. Hieraus ergebe sich, daß weder der Gleichheitssatz des Art. 3 GG verletzt werde, wenn § 27 anders als § 26 EStG beurteilt werde. Ebensowenig könne ein Verstoß gegen Art. 6 GG angenommen werden. Das in Art. 6 Abs. 1 GG für den Staat enthaltene Verbot, die Ehe zu schädigen oder zu beeinträchtigen, erstrecke sich allerdings auch auf die Familie und alle ihre Angehörigen, also auf die Ehegatten genau so wie auf die Kinder. Die Auswirkungen dieses Verbots könnten und müßten aber zwangsläufig in gewissen Fällen verschieden sein, weil die Rechte und Pflichten und damit die rechtliche und wirtschaftliche Gesamtstellung von Ehegatten und Kindern innerhalb der Familie teilweise erhebliche Unterschiede aufweisen.

Unzutreffend sei die Auffassung, § 27 EStG sei rechtsungültig, weil er gegen das Prinzip der Individualbesteuerung verstoße. Aus § 1 EStG könne dieser Grundsatz für die Einkommensteuer nicht hergeleitet werden. Den Abhandlungen von Klein, "Bundesverfassungsgericht und Ehegattenbesteuerung" (Finanzarchiv Neue Folge Bd. 18 S. 236) und Albers, "Die Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit in der deutschen Einkommensteuer" (Finanzarchiv Neue Folge Bd. 18 S. 423) sei zuzustimmen, die ausführten, es lasse sich nicht eindeutig feststellen, daß der deutsche Gesetzgeber zum Grundsatz der Individualbesteuerung übergegangen sei.

Bei Prüfung der Frage, welche Regelung an die Stelle einer etwa für verfassungswidrig erklärten Regelung nach § 27 EStG treten sollte, dürfe eine Neuregelung wohl nur in der Form einer konsequent, d. h. kompromißlos durchgeführten getrennten Veranlagung möglich sein. Das aber würde bedeuten, daß nicht nur von einer Zusammenrechnung der Einkünfte des Haushaltsvorstands und des Kindes abgesehen werden müßte, sondern daß auch auf die Gewährung der Kinderfreibeträge beim Haushaltsvorstand in ihrer jetzigen Form und auf die Erhöhung des Sonderausgabenhöchstbetrags wegen vorhandener Kinder völlig oder teilweise verzichtet werden müßte. Jedenfalls sei dies aber geboten, wenn ein Kind eigene Einkünfte hätte. Die Berücksichtigung der je nach der Höhe des eigenen Einkommens des Kindes verschieden hohen von den Eltern zu tragenden Aufwendungen könnte dann wohl nur im Rahmen und nach Art außergewöhnlicher Belastungen geschehen. Eine derartige Regelung dürfte, soweit es sich um Kindeseinkünfte kleiner oder mittlerer Höhe handelt, kaum günstiger sein als die bisher geltende. Nur hohe Kindeseinkünfte würden wahrscheinlich aus einer getrennten Besteuerung Nutzen ziehen. Dieses Ergebnis würde auch nur vermögende Eltern anreizen, durch entsprechende Gestaltung ihrer Einkommensverhältnisse (Spaltung der Einkünfte) sich die Vorteile der getrennten Besteuerung zu verschaffen. § 6 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) würde hiergegen keinen ausreichenden Schutz bieten. Mit einer derartigen Regelung dürfte also dem Gedanken des Schutzes von Ehe und Familie wenig gedient sein.

 

Entscheidungsgründe

II. Entscheidungserheblichkeit der Rechtsgültigkeit von § 27 EStG 1958

Der am 18. Dezember 1943 geborene Sohn der Ehefrau ist ihr eheliches Kind (ß 32 Abs. 2 Ziff. 3 Buchst. a EStG 1958). Im Verhältnis zum Ehemann hat er die Stellung eines ehelichen Stiefkindes im Sinne von § 32 Abs. 2 Ziff. 3 Buchst. b EStG 1958. Da er im Streitjahr noch nicht 18 Jahre alt war, stand den Bf. für ihn ein Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 2 EStG 1958 zu. Damit sind die Voraussetzungen für seine Zusammenveranlagung mit den Bf. nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 1 EStG 1958 erfüllt. Die vom Finanzamt vorgenommene Zusammenveranlagung entspricht daher dem Wortlaut des Gesetzes.

Falls § 27 EStG 1958 mit dem GG nicht zu vereinbaren ist, kann eine solche Zusammenveranlagung nicht vorgenommen werden und die Einkommensteuer für die Bf. und den Sohn der Ehefrau müßten anders festgesetzt werden. Es ist daher für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich, ob § 27 EStG 1958 wegen Verstoßes gegen das GG nichtig ist.

III. Zur Verfassungsmäßigkeit des § 27 EStG 1958

Der Senat ist bei den wenigen im Laufe der letzten Jahre entschiedenen Fällen, in denen eine Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern von Bedeutung war, von der Rechtsgültigkeit des § 27 EStG ausgegangen. Es handelt sich hierbei insbesondere um die Urteile VI 17/58 U vom 18. April 1958 (BStBl 1958 III S. 294, Slg. Bd. 67 S. 56), VI 59/55 U vom 31. Oktober 1957 (BStBl 1958 III S. 24, Slg. Bd. 66 S. 55) und VI 187/57 U vom 30. August 1957 (BStBl 1957 III S. 408, Slg. Bd. 65 S. 457). Im Fall VI 17/58 U, in dem keiner der Beteiligten die Rechtsgültigkeit des § 27 EStG bezweifelte, wurde dem Antrag der Steuerpflichtigen entsprochen und entgegen den EStR entschieden, daß jedes Kind, das zu seinen Eltern in einem ernsthaft geschlossenen und durchgeführten Arbeitsverhältnis steht, Anspruch auf Berücksichtigung des Werbungskostenpauschbetrags nach § 9 a EStG 1955 hat. In der Sache VI 59/55 U, in dem gleichfalls die Rechtsgültigkeit des § 27 EStG nicht streitig war, entschied der Senat unter Aufgabe der früheren Rechtsauffassung, daß bei einer gesetzlich vorgeschriebenen Zusammenveranlagung die zusammen veranlagten Personen nicht zu einer Einheit werden, sondern daß "Zusammenveranlagung" lediglich eine Zusammenrechnung der Einkünfte mehrerer Personen zwecks gemeinsamer Steuerfestsetzung bedeutet; demgemäß wurde eine Veranlagung zur Einkommensteuer nach § 46 Abs. 1 Ziff. 3 EStG 1953 wegen mehrerer Arbeitsverhältnisse bei einem Arbeitnehmer abgelehnt, der selbst nur ein Arbeitsverhältnis hatte, dessen Ehefrau und ein noch nicht 18 Jahre altes Kind jedoch gleichfalls als Arbeitnehmer tätig waren. Im Urteil des Bundesfinanzhofs VI 187/57 U schließlich handelte es sich um eine auf Art. 19 Abs. 4 GG gestützte Klage, in der ein Steuerpflichtiger einen Ermessensmißbrauch behauptete, weil das Finanzamt den infolge der Zusammenveranlagung nach § 27 EStG sich ergebenden Mehrbetrag an Einkommensteuer nicht erlassen hatte. Der Senat verneinte in diesem Fall das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs und verwies zur Begründung insbesondere darauf, daß der Gesetzgeber in dem kurz vorher verkündeten Gesetz zur änderung steuerrechtlicher Vorschriften vom 26. Juli 1957 (BGBl 1957 I S. 848, BStBl 1957 I S. 352), in dem er die Ehegattenbesteuerung neu geregelt hatte, § 27 EStG nicht geändert hätte, weil er ihn offenbar für vereinbar mit dem GG hielt.

Der Senat ist bei der Prüfung der ihm jetzt zur Entscheidung vorliegenden Fälle, welche die Auswirkungen der Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern in vollem Umfang erkennen lassen, nunmehr zu der überzeugung gelangt, daß § 27 EStG 1958 mit dem GG nicht zu vereinbaren ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluß 1 BvL 4/54 (a. a. O.) die beiden in den §§ 26 und 27 EStG geregelten Fälle der Zusammenveranlagung als Fremdkörper in dem auf dem Grundsatz der Individualbesteuerung beruhenden System des modernen Einkommensteuerrechts bezeichnet. In jenem Normenkontrollverfahren ging es lediglich um die Rechtsgültigkeit des § 26 EStG. über die Vereinbarkeit des § 27 EStG mit dem GG war infolgedessen damals nicht zu entscheiden. Daß §§ 26 und 27 EStG in dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nebeneinander aufgeführt und als Fremdkörper im System der Einkommensteuer bezeichnet wurden, legt allerdings die Annahme nahe, daß die zu der Nichtigkeit des § 26 EStG gegebene Begründung auch für die Frage der Rechtsgültigkeit des § 27 EStG erhebliche Bedeutung hat. Die gleichzeitige Anführung beider Vorschriften in den Gründen des Beschlusses berechtigt für sich allein aber wohl noch nicht zu dem Schluß, § 27 EStG teile ohne weiteres das Schicksal des § 26 EStG. Ob das deutsche Einkommensteuerrecht auf dem Grundsatz der Individualbesteuerung beruht, ist gleichfalls nicht wesentlich für die Vereinbarkeit des § 27 EStG mit dem GG. Entscheidend ist allein, ob die Auswirkungen der in § 27 EStG getroffenen Regelung dem GG entsprechen.

Bei der Beurteilung der nach § 27 EStG vorgenommenen Besteuerungen ist der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 1 BvL 4/54 (a. a. O.) insofern von entscheidender Bedeutung, als in ihm festgestellt wird, daß die infolge der Progression des Einkommensteuertarifs bei einer Zusammenrechnung der Einkünfte der Eheleute sich ergebende höhere Steuerbelastung mit dem GG nicht zu vereinbaren ist. Die gleiche steuerliche Wirkung tritt bei einer Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern nach § 27 EStG ein. Diese Folge der Zusammenveranlagung verstößt nach Auffassung des Senats sowohl gegen Art. 6 als auch gegen Art. 3 GG.

Ohne Bedeutung ist dabei, ob dieser Nachteil der Zusammenveranlagung eine große oder eine kleine Zahl von Steuerpflichtigen trifft. Die Zusammenveranlagung von Eheleuten hatte zweifellos für einen größeren Personenkreis Bedeutung als die Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern. Die dem Senat vorliegenden Fälle zeigen jedoch, daß auch die Zusammenveranlagungen von Eltern mit Kindern nicht selten sind und daß die Zusammenveranlagung für die Betroffenen erhebliche Nachteile mit sich bringen kann. Die Zahl der Fälle dürfte im übrigen durch die Wiederverheiratung von Witwen der im letzten Krieg Gefallenen gegenüber früher angestiegen sein. Die Auswirkungen der Zusammenveranlagung nach § 27 EStG haben aber vor allem durch das Gleichberechtigungsgesetz an Bedeutung gewonnen; denn nach dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. Juni 1957 (BGBl I s. 609) ist infolge der änderung des § 1649 BGB ab 1958 die Zahl der Kinder mit eigenen Einkünften erheblich größer geworden. Da vor dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes die Nutzungen des Kindesvermögen nach § 1649 BGB alter Fassung in der Regel den Eltern zuflossen, waren diese Erträge grundsätzlich Einkünfte der Eltern, so daß im allgemeinen die Kinder keine eigenen Einkünfte hatten, bei denen die Zusammenveranlagung nach § 27 EStG von Bedeutung gewesen wäre. § 27 EStG hatte während der Geltungsdauer des § 1649 BGB alter Fassung daher nur Bedeutung für die Fälle, in denen nach § 1651 BGB alter Fassung das Nutznießungsrecht der Eltern ausgeschlossen war und die Kinder infolgedessen eigene Einkünfte hatten.

Daß eine Zusammenveranlagung für die Beteiligten gelegentlich auch steuerliche Vorteile bringen kann, ist richtig. Sie ergeben sich, wenn eine der zusammen veranlagten Personen Minuseinkünfte hat, die nach § 2 Abs. 2 EStG mit den Einkünften der anderen zusammen veranlagten Personen ausgeglichen werden, dadurch zu einer Minderung des Einkommens der anderen Familienangehörigen führen und eine Ermäßigung von deren Einkommensteuer bewirken. Das gleiche kann sich auch ergeben, wenn einer der Zusammenveranlagten Verluste aus Gewerbebetrieb oder aus Land- und Forstwirtschaft hatte, die als Verlustabzug im Rahmen der Sonderausgaben eine Minderung des Einkommens der anderen Familienmitglieder herbeiführen. Ebenso wie eine Erhöhung der Steuer infolge der Zusammenveranlagung gegen den Grundsatz der Gleichheit der Besteuerung verstößt, bedeuten diese Auswirkungen der Zusammenveranlagung eine Besserstellung einzelner Steuerpflichtiger, gegen die nach dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ebenfalls Bedenken bestehen.

Wenn mehrere Kinder unter 18 Jahren zur Familie gehören, werden diese nach § 27 EStG nicht nur mit dem Haushaltsvorstand, sondern auch miteinander zusammen veranlagt. Wenn die Kinder, etwa infolge einer Erbschaft, Vermögen besitzen, das große Erträge abwirft, kann durch die Zusammenfassung dieser Kinder mit ihren Eltern oder Stiefeltern bei der Besteuerung eine erhebliche Erhöhung der Steuer aller zusammen veranlagten Personen eintreten. Die steuerlichen Nachteile können bei Familien mit mehreren Kindern unter Umständen noch großer sein als bei der früheren Zusammenveranlagung von Eheleuten nach § 26 EStG, weil die Progression des Steuertarifs sich bei der Zusammenrechnung der Einkünfte von z. B. sechs Personen für den einzelnen regelmäßig eine noch stärkere Mehrbelastung gegenüber der Einzelbesteuerung bedeutet als dies bei einer Zusammenveranlagung von zwei Ehegatten nach § 26 EStG der Fall war.

Die Zusammenveranlagung nach § 27 EStG ist aber nicht nur wegen der durch sie herbeigeführten erhöhten Steuerbelastung mit dem GG unvereinbar. Sie kann auch zu Auseinandersetzungen innerhalb der Familien führen, die die Einheit der Familien und möglicherweise sogar den Bestand von Ehen gefährden. In allen Fällen, in denen ein Vormund die Vermögensrechte eines Kindes wahrzunehmen hat, ist es nicht zu umgehen, daß der Haushaltsvorstand sich mit dem Vormund darüber verständigt, wie der bei der Zusammenveranlagung festgesetzte Steuerbetrag im Innenverhältnis von den zusammen veranlagten Personen getragen wird. Diese Frage taucht insbesondere auf, wenn der Haushaltsvorstand mit einem Stief- oder Pflegekind zusammen veranlagt wird. Es liegt zwar nahe, die Aufteilung der Steuer im Verhältnis der Einkommen der Zusammenveranlagten vorzunehmen. Dies wird von einem Vormund jedoch oft nicht anerkannt, wenn sein Mündel für seine eigenen Einkünfte eine geringere Steuer zu bezahlen hätte. Er wird es erst recht ablehnen, den durch die Zusammenveranlagung sich ergebenden Mehrbetrag der Steuer gegenüber der Steuer für das Einkommen der Eltern ganz für sein Mündel zu übernehmen. Diese Schwierigkeiten können noch vergrößert werden durch die Aufsicht des Vormundschaftsgerichts. Die Möglichkeit, daß ein Mündel den Vormund nach Beendigung der Vormundschaft nach § 1833 BGB für Steuerbeträge in Anspruch nimmt, die nach seiner Auffassung bei der Aufteilung der im Wege der Zusammenveranlagung festgesetzten Einkommensteuer von dem Vormund aus dem Kindesvermögen zuviel gezahlt wurden, trägt zu einer weiteren Vergrößerung der Schwierigkeiten der internen Verteilung bei. Die Zusammenveranlagung nach § 27 EStG kann daher dazu führen, daß der durch Art. 6 GG gewährleistete Schutz der Ehe in Frage gestellt ist.

Bedenken gegen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und damit gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG ergeben sich schließlich auch aus § 27 Abs. 3 EStG 1958, der ebenso wie die früheren Fassungen dieser Vorschrift für die Arbeitseinkünfte der Kinder eine Sonderregelung enthält. Diese Einkünfte werden bei der Zusammenveranlagung nach § 27 EStG anders behandelt als die Einkünfte aus den anderen Einkunftsarten. Das dürfte mit dem früheren objektsteuerartigen Charakter der Lohnsteuer zusammenhängen, die von den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit erhoben wird. Die Lohnsteuer hat ihre Sonderstellung im Rahmen der Einkommensteuer jedoch bereits seit der Währungsumstellung auf Grund des Militärregierungsgesetzes Nr. 64 verloren. Es bestehen seitdem keine wesentlichen Unterschiede mehr gegenüber der Besteuerung der anderen Einkunftsarten. Es dürfte daher auch nicht mehr gerechtfertigt sein, die Einkünfte der Kinder aus nichtselbständiger Arbeit bei der Besteuerung anders, nämlich im allgemeinen günstiger, zu behandeln als solche der anderen Einkunftsarten. Da dies aber in § 27 EStG 1958 ohne zwingende Gründe geschehen ist, liegt auch hierin ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG.

IV. Verfassungskonforme Auslegung Die Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 27 EStG 1958 mit dem GG zwingen zu der Prüfung, ob nicht durch eine im Sinne des GG liegende Auslegung des § 27 EStG eine übereinstimmung mit dem GG herbeigeführt werden kann. Der Senat ist der Auffassung, daß dies im Wege der Rechtsauslegung nicht möglich ist. Wollte man die durch eine Besteuerung nach § 27 EStG eintretende höhere Steuerbelastung im Wege der Auslegung abwenden, würde das einer Aufhebung der Vorschrift gleichkommen; denn in allen Fällen, in denen sich durch die Zusammenrechnung der Einkünfte von Eltern und Kindern eine höhere Steuerbelastung ergibt, könnte eine verfassungskonforme Auslegung nur darin bestehen, die gegenüber einer getrennten Veranlagung der Beteiligten sich ergebenden Mehrbeträge an Einkommensteuer bei der Steuerfestsetzung außer Betracht zu lassen. Das würde bedeuten, daß § 27 EStG nicht mehr anzuwenden wäre; damit wäre im Ergebnis § 27 EStG aufgehoben. Diese Entscheidung kann nach Art. 123 GG der Bundesfinanzhof jedoch nicht treffen, da § 27 in der Fassung des EStG 1958 nachkonstitutionelles Recht ist (siehe unter V.).

Eine verfassungskonforme Auslegung des § 27 EStG 1958 müßte übrigens berücksichtigen, daß das EStG in verschiedenen Vorschriften den Steuerpflichtigen mit Kindern Vergünstigungen gewährt. Es handelt sich dabei vor allem um die Erhöhung des Sonderausgabenhöchstbetrags in § 10, um die Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen bei Aufwendungen für Kinder in §§ 33 und 33 a EStG 1958 (§§ 64, 65 EStDV 1958) sowie um den Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 4 EStG 1958. Würden Kinder mit eigenen Einkünften als selbständige Steuerpflichtige zur Einkommensteuer herangezogen und infolgedessen bei ihrer Besteuerung der allgemeine Freibetrag von 900 DM und der Sonderfreibetrag von 780 DM nach § 32 a EStG 1958 in Verbindung mit Abs. 1 der Anlage zu dieser Vorschrift berücksichtigt und würde bei ihrer Besteuerung ein Sonderausgabenpauschbetrag nach § 10 c EStG 1958 abgezogen, so ist es zweifelhaft, ob die Regelungen in den §§ 10, 33, 33 a und 32 Abs. 4 EStG 1958 bei der Besteuerung der Eltern noch sinnvoll und vertretbar sind. Die Entscheidung darüber kann nicht Aufgabe eines Gerichts sein. Sie ist im wesentlichen nach politischen, insbesondere steuerpolitischen Gesichtspunkten zu treffen. Sie geht damit über den Aufgabenbereich und die Befugnisse eines Gerichts hinaus. Der Versuch, diese Fragen im Rahmen einer Auslegung des § 27 EStG zu lösen, wäre eine Einmischung der Rechtsprechung in die Gesetzgebung und würde gegen den Grundsatz der Dreiteilung der Staatsgewalt verstoßen.

V. § 27 EStG 1958 als nachkonstitutionelles Recht

§ 27 EStG ist durch das Gesetz zur änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts vom 18. Juli 1958 (BGBl 1958 I S. 473, BStBl 1958 I S. 412) neu gefaßt worden (Art. 1 Ziff. 23 dieses Gesetzes). Dabei ist insbesondere Abs. 4 mit Rücksicht auf die neu geregelte getrennte Veranlagung der Eltern eingefügt worden. Außerdem ist Abs. 3, der das Ausscheiden der Kindeseinkünfte aus nichtselbständiger Arbeit betrifft, sachlich geändert worden. Auch Abs. 1 hat redaktionelle änderungen erfahren. Wegen der den Inhalt betreffenden sachlichen änderungen ist § 27 in der Fassung des EStG 1958 nachkonstitutionelles Recht im Sinne von Art. 100 GG. Da der Senat die Vorschrift für verfassungswidrig hält, ist das Verfahren vor dem Bundesfinanzhof auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über der Vereinbarkeit des § 27 EStG 1958 mit dem GG einzuholen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410478

BStBl III 1962, 369

BFHE 1963, 281

BFHE 75, 281

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