Leitsatz (amtlich)

1. Entspricht das FA dem unmittelbar an das FG gerichteten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 Abs. 3 FGO) und ist der Rechtsstreit deshalb in der Hauptsache erledigt, dann entscheidet das FG nicht in entsprechender Anwendung des § 138 Abs. 2 FGO, sondern gemäß § 138 Abs. 1 FGO nach billigem Ermessen über die Kosten. Es hat dabei zu berücksichtigen, ob der Antragsteller ein schutzwürdiges Interesse hatte, das Gericht unmittelbar anzurufen.

2. Ein solches Interesse ist gegeben, wenn dem Antrag ein Haftungsbescheid zugrunde liegt, den das FA ohne Anhörung des Antragstellers über eine möglicherweise existenzgefährdende Steuerschuld erlassen und die Zahlung innerhalb kurzer Frist angeordnet hat.

 

Normenkette

FGO § 69 Abs. 3, § 138 Abs. 1-2

 

Tatbestand

Das FA - Antragsgegner und Beschwerdeführer - erließ gegen den Antragsteller (Beschwerdegegner - - Bg. - und Haftungsschuldner) als Erwerber eines Unternehmens gemäß §§ 116, 118 AO und § 7 StAnpG einen Haftungsbescheid über Umsatzsteuer 1963 und 1964. Hiergegen erhob der Antragsteller Sprungklage. Er beantragte unter anderem, den Haftungsbescheid ersatzlos aufzuheben und die Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheides gemäß § 69 Abs. 3 FGO auszusetzen.

Das FA stimmte der Sprungklage nach § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht zu und behandelte sie als Einspruch (§ 45 Abs. 1 Satz 2 FGO). Dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung entsprach es nach § 242 Abs. 2 AO und teilte dies dem FG durch Schreiben vom 13. Dezember 1966 mit. Daraufhin ging das FG davon aus, daß der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt sei und auferlegte mit Beschluß vom 19. Dezember 1966 dem FA gemäß § 138 Abs. 2 FGO die Kosten. Den Streitwert setzte es in Höhe des Haftungsbetrages fest.

Mit der Beschwerde begehrt das FA, die Vorentscheidung aufzuheben und die Kosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen, hilfsweise, den Streitwert mit 5 v. H. des Haftungsbetrages zu bemessen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Beschwerde ist nicht begründet.

1. Der Aussetzungsantrag ist unter Berufung auf § 69 Abs. 3 FGO an das FG gerichtet worden. Obwohl die Sprungklage, weil das FA ihr nicht zugestimmt hat, als Einspruch behandelt wird (§ 45 Abs. 1 Satz 2 FGO), ist der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht als an das FA gerichtet anzusehen. Durch einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO wird nämlich über die Aussetzung der Vollziehung beim FG ein Verfahren anhängig (siehe auch Beschluß des BFH IV B 23/66 vom 14. April 1967, BFH 88, 195, BStBl III 1967, 321, 322), und zwar ohne Rücksicht darauf, ob tatsächlich zu diesem Zeitpunkt ein Streit über die Aussetzung der Vollziehung besteht oder nicht. Der dem FG vorliegende Antrag ist unmißverständlich als Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO bezeichnet; daher ist es auch nicht möglich, ihn als einen Antrag zu behandeln, der an die für die Hauptsache zuständige Stelle (FA) gerichtet ist.

2. Die Hauptsache ist auch erledigt, denn dem Begehren des Haftungsschuldners auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheides ist entsprochen worden, und beide Parteien gehen im Verfahren über die Kostenentscheidung übereinstimmend davon aus, daß die Hauptsache erledigt sei.

3. Ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, so entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens durch Beschluß (§ 138 Abs. 1 FGO).

Ein Fall des § 138 Abs. 2 FGO liegt entgegen der Auffassung der Vorinstanz und einiger FGe (FG Berlin Beschlüsse III 2/65 vom 24. Juni 1966, EFG 1966, 471 und III 243/66 vom 30. Dezember 1966, EFG 1967, 245; FG Hamburg Beschluß V 3/65 (I) vom 26. August 1966, EFG 1966, 514; FG München Beschluß IV 139/66 Aus. 2 vom 5. Juli 1966, EFG 1966, 421; Niedersaachsisches FG Beschluß V 104/66 vom 21. Juni 1966, EFG 1966, 417) nicht vor; denn der Rechtsstreit ist nicht dadurch in der Hauptsache erledigt worden, daß das FA einen angefochtenen Verwaltungsakt entsprechend dem Antrag des Haftungsschuldners zurückgenommen oder geändert hat. Das FA hatte nämlich noch keinen Verwaltungsakt erlassen, der zurückzunehmen oder zu ändern gewesen wäre, und auch keinen beantragten Verwaltungsakt unterlassen. Im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung kann nämlich insbesondere als "angefochtener Verwaltungsakt" nicht das einen Teil des Haftungsbescheides bildende Leistungsgebot angesehen werden.

§ 138 Abs. 2 FGO ist auch nicht entsprechend auf den vorliegenden Fall anwendbar. Jede der Alternativen in § 138 Abs. 2 FGO setzt einen Verwaltungsakt oder eine Untätigkeit der Finanzbehörde voraus. Ein solcher Sachverhalt ist indes hier nicht gegeben, weil - wie gesagt - überhaupt noch kein Verwaltungsakt in diesem Sinne ergangen ist.

4. Liegt aber kein Fall des § 138 Abs. 2 FGO vor, dann richtet sich die Kostenentscheidung nach § 138 Abs. 1 FGO (siehe auch Beschluß des BFH IV B 23/66 vom 14. April 1967, a. a. O.). Danach ist über die Kosten nach billigem Ermessen zu entscheiden, wobei der bisherige Sach- und Streitstand zu berücksichtigen ist. Das Gericht soll demnach eine der Prozeßsituation angemessene Entscheidung treffen. Dabei ist auch von Bedeutung, ob derjenige, der das Gericht angerufen hat, für sein Begehren Anlaß und ein schutzwürdiges Interesse hatte (vgl. BFH-Beschluß IV B 23/66 vom 14. April 1967, a. a. O.). Veranlassung, das Gericht anzurufen, gibt, wer sich so verhält, daß vernünftigerweise der Schluß auf die Notwendigkeit eines Prozesses gerechtfertigt ist (vgl. Baumbach-Lauterbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 29. Aufl., § 93 Anm. 3). Keine Veranlassung, das Gericht anzurufen, ist mit anderen Worten gegeben, wenn bei verständiger Würdigung der Umstände des Falles anzunehmen ist, daß der Kläger oder Antragsteller auch ohne Prozeß das Prozeßziel erreicht haben würde (Urteil des RG V 40/27 vom 22. Oktober 1927, RGZ 118, 261, 2 6 4).

Die Veranlassung zum Rechtsstreit berücksichtigen auch die bisherigen Entscheidungen des BFH (Beschlüsse IV B 23/66 vom 14. April 1967, a. a. O., und I S 3/67 vom 20. September 1967, BFH 89, 476, BStBl III 1967, 673).

In dem Beschluß I S 3/67 vom 20. September 1967 ist allerdings ausgesprochen, daß es der Billigkeit entspreche, die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufzuheben, wenn das FA, nachdem der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim BFH gestellt ist, alsbald von sich aus die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes aussetzt, ohne daß sich der Steuerpflichtige vorher vergeblich beim FA darum bemüht hat. Außerdem ist in dem Beschluß IV B 23/66 vom 14. April 1967 (a. a. O.) entschieden worden, daß es billigem Ermessen entspricht, die Kosten der Behörde aufzuerlegen, wenn es der Steuerpflichtige vergeblich versucht hat, die Aussetzung der Vollziehung beim FA zu erreichen.

Der Senat ist der Auffassung, daß die Frage der Billigkeit jeweils nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen ist, wie das auch in den beiden vorgenannten Entscheidungen geschehen ist. Insoweit besteht keine Abweichung in einer Rechtsfrage gegenüber den Entscheidungen des I. und IV. Senats. Kommt es jedoch auf die Umstände des Einzelfalles an, können auch andere als die in den Beschlüssen des I. und IV. Senats gewürdigten Umstände eine Rolle spielen. Die Besonderheiten des jeweiligen Falles sind vor allem dann von Bedeutung, wenn der Anlaß zur Klageerhebung oder des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung beim FG ausschlaggebend ist.

Im vorliegenden Fall hat das FA dem Bg. Anlaß gegeben, beim FG die Aussetzung der Vollziehung zu beantragen.

Das FA hat, nachdem es seine Steueransprüche bei der Verkäuferin des Unternehmens nicht befriedigen konnte, gegen den Bg. einen Haftungsbescheid über rund 200 000 DM erlassen, ohne den Bg. zum Sachverhalt zu hören. Es hat dem Bg. außerdem in dem am 28. Oktober 1966 zur Post gegebenen Bescheid eine Zahlungsfrist bis zum 15. November 1966 gesetzt, ohne hinreichend zu prüfen, ob bei der Höhe der Summe für die kurze Fristsetzung zur Zahlung ein Anlaß bestanden hat.

Erläßt das FA unter Verletzung des durch das Grundgesetz (Art. 103) geschützten Anspruchs auf Gewährung des rechtlichen Gehörs überraschend einen Haftungsbescheid über eine die Existenz des Haftungsschuldners gefährdende Summe und ordnet es dabei eine - vom fiktiven Zugang des Bescheides gerechnet - nur 15tägige Zahlungsfrist an, dann ist der in Anspruch genommene Bg. gezwungen, schnellen und umfassenden Rechtsschutz bei Gericht zu suchen. Der Bg. mußte, da er trotz der Höhe der Antragsumme nicht zum Sachverhalt gehört und ihm nur eine kurze Zahlungsfrist eingeräumt worden ist, annehmen, das FA würde aus dem Haftungsbescheid alsbald vollstrecken. Unter diesen Umständen mußte der Bg. der Auffassung sein, daß er nur durch einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung an das Gericht den bei der Eilbedürftigkeit der Sache erforderlichen Rechtsschutz würde erlangen können.

Hat das FA Anlaß zur Anrufung des Gerichts gegeben, dann entspricht es billigem Ermessen, ihm auch die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 140 Abs. 3 FGO.

Der Senat tritt der Auffassung des VII. Senats bei, daß der Streitwert des Verfahrens über die Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Steuerbescheides auch nach Inkrafttreten der FGO auf 10 v. H. des Betrages festzusetzen ist, um den im Verfahren über die Hauptsache gestritten wird (vgl. BFH-Beschlüsse VII B 29/66 vom 6. Februar 1967, BFH 87, 410, BStBl III 1967, 121 und IV B 23/66 vom 14. April 1967, a. a. O.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 412841

BStBl II 1968, 120

BFHE 1968, 456

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