Entscheidungsstichwort (Thema)

Antrag auf Vorabentscheidung vom 02.07.1987 - VII R 112/83

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur doppelten Zollschuldentstehung für dieselbe Ware im Rahmen einer Zollunion.

2. War beim Stand der Zollrechtsangleichung vom Mai 1980 eine deutsche Zollvorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, die die Entstehung einer Zollschuld für aus einem Drittland stammende Waren vorsah, die zuvor in einen anderen Mitgliedsstaat eingeschmuggelt und von dort, ohne daß dort die Einfuhrförmlichkeiten erfüllt worden waren, vorschriftswidrig im internen gemeinschaftlichen Versandverfahren in die Bundesrepublik verbracht worden waren? (Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH)

 

Normenkette

EWGVtr Art. 9-10, 12, 177 Abs. 3; ZG § 58 Abs. 1 S. 1; EWGV 222/77 Art. 36 Abs. 1

 

Nachgehend

EuGH (Entscheidung vom 20.09.1988; Aktenzeichen 252/87)

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) beantragte in der Zeit vom 12.Januar 1979 bis 9.Mai 1980 beim Beklagten und Revisionskläger (Hauptzollamt --HZA--) die Abfertigung von Strumpfwaren zum freien Verkehr, die sie von einer Firma in Kopenhagen gekauft hatte. Das HZA stellte die Waren aufgrund der vorgelegten Versandanmeldungen T 2 (internes gemeinschaftliches Versandverfahren; Art.1 der Verordnung (EWG) Nr.222/77 des Rates über das gemeinschaftliche Versandverfahren vom 13.Dezember 1976 --VersandVO--, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --AblEG-- 1977, L 38/1) vom Zoll frei, erhob lediglich die Einfuhrumsatzsteuer und gab die Waren frei. Nachdem sich der Verdacht ergeben hatte, daß die eingeführten Waren aus Korea stammten und in Dänemark eingeschmuggelt worden waren, leiteten die dänischen Zollbehörden ein Nachprüfungsverfahren ein und ordnete das HZA am 5.Dezember 1980 eine Außenprüfung bei der Klägerin an. Sowohl die dänischen Zollbehörden als auch der Außenprüfer kamen zum Ergebnis, daß Herstellungs-/Ursprungsland der Strumpfwaren Südkorea war. Daraufhin forderte das HZA unter Hinweis auf § 58 des Zollgesetzes (ZG) mit Änderungsbescheid vom 19.Februar 1981 den Zoll in Höhe von insgesamt 241 676,76 DM von der Klägerin an.

Im Laufe des Klageverfahrens teilte die dänische der deutschen Zollverwaltung am 10.Mai 1983 mit, im Zusammenhang mit dem Einschmuggeln der Waren nach Dänemark handle es sich um eine Verletzung des § 117 Abs.2 des dänischen ZG und die betreffende Person werde nach dieser Vorschrift zur Zahlung von Zoll und Einfuhrumsatzsteuer für die eingeschmuggelten Waren verurteilt; die Sache liege im Augenblick bei der Anklagebehörde und die Anklageschrift sei in Ausarbeitung mit dem Ziel, daß der Betroffene zur Zahlung eines Gesamtzollbetrages von 3 580 233 dänische Kronen verurteilt werde (hiervon seien 2 943 278 dänische Kronen Zoll in Bezug auf den Teil der Waren, die in die Bundesrepublik Deutschland weiterbefördert worden seien). Das Finanzgericht (FG) hob den Änderungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung im wesentlichen mit der Begründung auf, dem Wesen einer Zollunion (vgl. Art.9 und 12 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft --EWGV--) widerspreche eine mehrmalige Zollschuldentstehung innerhalb der Gemeinschaft allein aufgrund einer nationalen Vorschrift.

Mit seiner Revision macht das HZA geltend: Es gebe keine Gemeinschaftsnorm, die der Anwendung des § 58 ZG entgegenstehe. Art.9 und 12 EWGV seien auf den hier zu entscheidenden Fall nicht anwendbar. Auch aus dem "Wesensgehalt einer Zollunion" lasse sich die vom FG vertretene Rechtsauffassung nicht herleiten. Die Zollunion sei zur Zeit noch nicht vollendet. Der Grundsatz, daß bei vorschriftswidrigen Einfuhren von Waren in das Zollgebiet der Gemeinschaft die Zollschuld nur einmal entstehe, gelte erst nach Ablauf der Frist zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts an die Richtlinie 79/623/EWG des Rates vom 25.Juni 1979 zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Zollschuld (ABlEG 1979, L 179/31), d.h. erst ab 1.Januar 1982.

Die Klägerin trägt dagegen u.a. vor: Es sei zwischen den Beteiligten unstreitig, daß die Tatbestandsmerkmale des § 58 Abs.1 Satz 1 ZG erfüllt seien. Die genannte Vorschrift sei jedoch im Lichte des Gemeinschaftsrechts einschränkend dahin auszulegen, daß in Fällen wie dem vorliegenden eine Zollschuld nicht entstehe. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) habe in seinen Entscheidungen wiederholt als Maßstab für strittige gemeinschaftsrechtliche Abgabenerhebungen das Bestehen einer Zollunion, die Einheit des Zollgebietes für die Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) und die Erforderlichkeit der vollständigen Freiheit der Warenbeförderung herausgestellt. Es komme wesentlich auf Art.36 VersandVO an. Diese Vorschrift sei zumindest sinngemäß anwendbar und stehe einer Zollschuldentstehung nach § 58 Abs.1 Satz 1 ZG entgegen.

 

Entscheidungsgründe

II. Zur Entscheidung der Frage, ob die Regelung des § 58 Abs.1 Satz 1 ZG (i.d.F. vor Inkrafttreten des Siebzehnten Zolländerungsgesetzes vom 12.September 1980, BGBl I 1980, 1695; im folgenden stets in dieser Fassung zitiert) mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, bedarf es der Auslegung dieses Rechts. Der Senat ist daher nach Art.177 Abs.3 EWGV zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH verpflichtet.

1. § 58 Abs.1 Satz 1 ZG lautete im für den vorliegenden Fall maßgebenden Zeitpunkt:

"Wird Zollgut, das nicht zollfrei ist, entgegen § 36 Abs.3 (d.h. obwohl

Zoll zu erheben ist) unverzollt freigegeben, so entsteht dafür mit der

Freigabe eine Zollschuld."

Es ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, daß nach dem Wortlaut dieser Bestimmung für die eingeführten Waren eine Zollschuld in der Person der Klägerin entstanden ist. Die Merkmale dieses Tatbestandes sind erfüllt. Die Waren sind mit ihrem Verbringen in das deutsche Zollgebiet Zollgut geworden. Sie sind nicht zollfrei, da sie Drittlandswaren sind, die sich nicht im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befanden (vgl. Art.10 Abs.1 EWGV). Die eingeführten Waren können auch nicht etwa deswegen als im freien Verkehr der Gemeinschaft befindlich angesehen werden, weil sie trotz des Fehlens der Voraussetzungen der Art.9 und 10 EWGV zum internen gemeinschaftlichen Versandverfahren abgefertigt worden sind. Diese Abfertigung begründet allenfalls eine Vermutung für die Gemeinschaftseigenschaft einer Ware, die hier widerlegt ist. Die eingeführten Waren sind also bei ihrer Einfuhr zunächst entgegen § 36 Abs.3 ZG, d.h. ohne die dort vorgesehene Anforderung des Zolls durch Zollbescheid, freigegeben worden.

2. Es stellt sich also die Frage, ob § 58 Abs.1 Satz 1 ZG nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts unanwendbar bleiben muß, weil die Vorschrift mit Gemeinschaftsrecht kollidiert. Eine solche Kollision liegt vor, wenn im Einzelfall sowohl eine entscheidungserhebliche Rechtsnorm des Gemeinschaftsrechts als auch eine von ihr abweichende grundsätzlich ebenfalls entscheidungserhebliche nationale Rechtsnorm besteht. Fehlt es im Einzelfall an einer anwendbaren Norm des Gemeinschaftsrechts, so stellt sich die Frage nach dessen Vorrang nicht.

a) Nach Auffassung des Senats ergibt sich aus dem "Wesen der Zollunion" keine (ungeschriebene) Rechtsnorm des Gemeinschaftsrechts, mit der die Anwendung des § 58 Abs.1 Satz 1 ZG auf den vorliegenden Fall unvereinbar wäre. Es ist allgemein anerkannt, daß die EWG eine Zollunion (noch) nicht ist, da ihre Mitgliedstaaten bei der zollrechtlichen Behandlung der Waren (noch) unterschiedliches Recht anwenden. Das belegt auch der Umstand, daß es ein Mehrjahresprogramm der Kommission zur Verwirklichung der Zollunion gibt (ABlEG 1979, C 84/2), das noch nicht durchgeführt ist. Die nationalen Zollrechte weichen immer noch beträchtlich voneinander ab. Das galt im für den vorliegenden Fall maßgebenden Zeitpunkt insbesondere für die Vorschriften über die Entstehung der Zollschuld. Die Existenz der Unterschiede der nationalen Zollrechte auf diesem Gebiet waren und sind dem gegenwärtigen System des Gemeinsamen Marktes immanent und stellen für sich allein keinen Verstoß gegen den EWGV oder gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht dar. Vielmehr ist die Zollunion, die nach Art.9 EWGV Grundlage der Gemeinschaft ist, noch nicht voll verwirklicht. Daß diese Verwirklichung Ziel des EWGV ist, ermöglicht es nicht, bei der Frage, ob bestimmte nationale Rechtsvorschriften anwendbar sind, bereits von der Vollendung der Zollunion auszugehen. Beim Stand der Rechtsvereinheitlichung im hier maßgebenden Zeitpunkt war dem Gemeinschaftsrecht also (noch) keine --ungeschriebene-- Rechtsnorm zu entnehmen, nach welcher für eine und dieselbe in die Gemeinschaft eingebrachte Ware die Zollschuld nur einmal hätte entstehen können (vgl. auch die Richtlinie 76/623/EWG, ABlEG 1979, L 179/31).

b) Art.12 EWGV verbietet zwar die Einführung neuer Zölle für Gemeinschaftswaren. Die Erhebung der im GZT vorgesehenen Drittlandszölle für Waren, die die Voraussetzungen für die Binnenbehandlung nach Art.9 und 10 EWGV nicht erfüllen, wird durch diese Vorschrift aber nicht berührt.

c) Der Anwendung des § 58 Abs.1 Satz 1 ZG steht nach Auffassung des Senats schließlich auch Art.36 Abs.1 VersandVO nicht entgegen. Diese Vorschrift betrifft lediglich Zuwiderhandlungen, die gegen Vorschriften zur Durchführung des Versandverfahrens begangen worden sind. Das Einschmuggeln der streitbefangenen Waren nach Dänemark ist keine solche Zuwiderhandlung. Eine analoge Anwendung des Art.36 Abs.1 VersandVO auf Fälle der vorliegenden Art ist nicht möglich. Analogie setzt das Vorliegen einer Gesetzeslücke voraus, die im Wege des Rückgriffs auf ein im Gesetz angelegtes Prinzip ausgefüllt wird. Art.36 Abs.1 VersandVO enthält aber lediglich eine spezifische Regelung für das gemeinschaftliche Versandverfahren. In dieser Vorschrift ist kein Prinzip verankert, das im Wege der Analogie auf Zollschuldentstehungstatbestände außerhalb des gemeinschaftlichen Versandverfahrens angewendet werden könnte. Den Verfassern des Art.36 Abs.1 VersandVO lag es fern, sich mit dieser Frage bei der Ausarbeitung der Regelung über das gemeinschaftliche Versandverfahren zu befassen.

3. Sollte der Gerichtshof demnach vom Bestehen einer ungeschriebenen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ausgehen, nach welcher in den Jahren 1979/80 für eine und dieselbe Ware die Zollschuld in der Gemeinschaft nicht zweimal entstehen konnte, so wird er darauf einzugehen haben, welchen konkreten Inhalt eine solche Vorschrift hatte. Dabei stellen sich auch Fragen nach der Praktikabilität. Insbesondere wäre zu entscheiden, welche nationale Zollschuldentstehungsvorschrift den Vorrang hat (hier die dänische oder die deutsche), ob die Anwendbarkeit einer nationalen Vorschrift wie des § 58 Abs.1 Satz 1 ZG schon ausscheidet, wenn in einem anderen Mitgliedstaat eine Zollschuld (früher?) entstanden ist oder ob darauf abzustellen ist, daß diese auch (früher?) erhoben worden ist. Auch hätte der Gerichtshof dazu Stellung zu nehmen, ob die genannte ungeschriebene Vorschrift des Gemeinschaftsrechts nur zur Anwendung kommt, wenn für eine und dieselbe Ware eine Zollschuld in einer und derselben Person doppelt entsteht, welche Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht erfüllt ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61930

BFHE 150, 240

BFHE 1987, 240

HFR 1987, 577-577 (ST)

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge