Leitsatz

1. Die Sonderregelung zur Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes gilt aufgrund der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) auch für Vorsorgeaufwendungen, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit Einnahmen aus einer in den Niederlanden ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit stehen.

2. Das zur Ermittlung von Amts wegen verpflichtete Finanzgericht (FG) muss auch Fragen nachgehen, über welche die Beteiligten nicht streiten, wenn insoweit Zweifel bestehen.

3. Es ist Aufgabe des FG als Tatsacheninstanz, das maßgebende ausländische Recht gemäß § 155 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung i.V.m. § 293 der Zivilprozessordnung von Amts wegen zu ermitteln. Wie das FG das ausländische Recht ermittelt, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Die Feststellungen zu Bestehen und Inhalt des ausländischen Rechts sind für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend. Fehlen jedoch die erforderlichen Feststellungen zum maßgeblichen ausländischen Recht, liegt ein materieller Mangel vor.

 

Normenkette

§ 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 32b EStG, Art. 49 AEUV, § 76 Abs. 1 Satz 1, § 118 Abs. 1 FGO, § 293, § 560 ZPO

 

Sachverhalt

Die im Inland wohnende Klägerin erzielte als selbstständige Hebamme in den Niederlanden Gewinne. Sie leistete in den Niederlanden neben einem einkommensunabhängigen gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung (sog. Kopfpauschale) weitere einkommensabhängige Beiträge zur Renten-, Pflege- und Krankenversicherung. Der von der Klägerin erzielte Gewinn unterlag in den Niederlanden nach Berücksichtigung von Grundfreibeträgen und der wegen der Lebens- und Einkommenssituation der Klägerin insgesamt höheren "Heffingskorting" (Steuerabzug für die persönlichen Verhältnisse) i.H.v. 7.460 EUR keiner Einkommensteuerbelastung. In Deutschland erfasste das FA den Gewinn der Klägerin im Rahmen des Progressionsvorbehalts. Die Beiträge zur niederländischen Sozialversicherung blieben sowohl bei der Ermittlung des Einkommens als auch bei der Höhe des Progressionsvorbehalts unberücksichtigt. Die dagegen gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg (FG Düsseldorf, Urteil vom 21.10.2021, 9 K 1517/20 E, EFG 2023, 127). Das FG meinte, zwar dürften die einkommensabhängigen Vorsorgeaufwendungen nicht abgezogen werden, dafür sei aber die sog. Kopfpauschale aus unionsrechtlichen Gründen zu berücksichtigen. Hiergegen wandten sich sowohl die Klägerin als auch das FA.

 

Entscheidung

Beide Revisionen hatten Erfolg und führten zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG. Der BFH konnte den erstinstanzlichen Feststellungen nicht entnehmen, welche Versorgungsaufwendungen in den Niederlanden aufgrund welcher Vorschriften gesetzlich steuerlich zu berücksichtigen waren und in welcher Art und Weise bzw. in welchem tatsächlichen Umfang im Streitfall eine solche Berücksichtigung erfolgt war.

 

Hinweis

Aus unionsrechtlichen Gründen hat der BFH erneut den Anwendungsbereich der Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG erweitert und die Möglichkeit des Sonderausgabenabzugs für Vorsorgeaufwendungen – insbesondere für Rentenversicherungs- und Krankenversicherungsbeiträge – auch dann bejaht, wenn diese mit steuerfreien Einnahmen aus einer selbstständigen Tätigkeit in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen.

1. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG können Vorsorgeaufwendungen nur dann abgezogen werden, wenn sie nicht in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen. Hierdurch soll ein ansonsten eintretender doppelter steuerlicher Vorteil vermieden werden. Um der EuGH-Rechtsprechung, insbesondere der Rechtssache Bechtel(Urteil vom 22.6.2017 – C-20/16, BStBl II 2017, 1271), zu genügen, hat der Gesetzgeber in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG hiervon eine Ausnahme gemacht, wenn die Vorsorgeaufwendungen mit aus der EU/dem EWR oder der Schweiz stammenden, nach DBA steuerbefreiten Einkünften aus nichtselbstständiger Tätigkeit in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen und in dem Beschäftigungsstaat überhaupt nicht berücksichtigt werden.

2. Die gesetzliche Begrenzung der Ausnahmeregelung auf Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit verstößt allerdings gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV, die von einem nationalen Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit als unmittelbar geltendes Recht zu beachten ist. Die Gründe, aufgrund derer der EuGH u.a. in der Rechtsache Bechtel die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV als verletzt angesehen hat, gelten in gleicher Weise für die Niederlassungsfreiheit. Dass hier andere Maßstäbe anzulegen wären, kann nicht angenommen werden. Auch der EuGH hat seine Rechtsprechung erkennbar nicht allein auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern auch auf die Niederlassungsfreiheit bezogen und gestützt (vgl. z.B. Urteil vom 12.12.2013 C-303/12, Imfeld und G...

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