Leitsatz

1. Für die Berechnung der sog. Wesentlichkeitsgrenzen nach § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG als Voraussetzung für die fiktive unbeschränkte Steuerpflicht sind auf der ersten Stufe (Ermittlung des Welteinkommens) Einnahmen, die unter Zugrundelegung deutschen Einkommensteuerrechts grundsätzlich steuerbar, aber – z.B. nach § 3 EStG – steuerfrei wären (hier: aus den Niederlanden stammende Krankengeldzahlungen), nicht einzubeziehen (Abgrenzung zum Senatsurteil vom 01.10.2014 – I R 18/13, BFHE 247, 388, BStBl II 2015, 474). Solche Einnahmen sind aber ggf. im Rahmen der Bemessung des Progressionsvorbehalts zur Berechnung des besonderen Steuersatzes nach § 32b EStG zu berücksichtigen.

2. Bei der Bemessung des Progressionsvorbehalts bleiben ausländische Kapitaleinkünfte außer Betracht, die bei einem inländischen Sachverhalt der Abgeltungsteuer unterliegen würden (Abgrenzung zum Senatsurteil vom 12.08.2015 – I R 18/14, BFHE 251, 182, BStBl II 2016, 201).

 

Normenkette

§ 1 Abs. 3 Satz 2, § 3 Nr. 1 Buchst. a, § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 EStG

 

Sachverhalt

Der Kläger ist als Erbe Rechtsnachfolger seiner 2013 verstorbenen Schwester S. Diese wohnte in den Niederlanden und erzielte im Streitjahr (2012) aus ihrer in Deutschland in einer dort belegenen Praxis ausgeübten Tätigkeit als Physiotherapeutin Einkünfte aus selbstständiger Arbeit i.H.v. ... EUR. In den Niederlanden erzielte S im Streitjahr Zinseinkünfte i.H.v. ... EUR und erhielt Krankengeld des niederländischen Sozialversicherungsträgers Uit­voeringsinstituut Werknemersverzekeringen (UWV) i.H.v. ... EUR. S war freiwilliges Mitglied dieser Versicherung und hatte Beiträge zu entrichten. Gesetz­liche Grundlage für das Krankengeld ist das Ziektewet als niederländisches Krankengeldgesetz. Das Kranken­geld war auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit (ausgenommen Samstag und Sonntag) auszuzahlen. Freiwillig versicherte Personen hatten Anspruch auf Krankengeld, wenn sie aufgrund von Krankheit, Schwangerschaft oder Geburt nicht in der Lage waren, ihre gewohnte Arbeit zu verrichten.

Das Krankengeld und die Kapitaleinkünfte wurden vom niederländischen Fiskus besteuert. Der Kläger beantragte beim FA, S im Rahmen der sog. fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig zu behandeln. Das FA kam nach einer Außenprüfung zu der Auffassung, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 EStG für das Streitjahr nicht vorlägen, weil die niederländischen Krankengeldzahlungen bei der Prüfung der sog. Wesentlichkeitsgrenzen des § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG als ausländische Einkünfte zu berücksichtigen seien. Es besteuerte die inländischen Einkünfte daher unter Annahme der beschränkten Steuerpflicht der S.

Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg (FG Düsseldorf, Urteil vom 5.12.2017, 10 K 1232/16 E, Haufe-Index 11569407, EFG 2018, 631).

 

Entscheidung

Der BFH hat die Revision des FA als teilweise begründet erachtet. Hierzu kann auf die Praxis-Hinweise verwiesen werden.

 

Hinweis

1. Mit der Besprechungsentscheidung hat der I. Senat des BFH Unklarheiten bei der Anwendung des § 1 Abs. 3 EStG (fiktive unbeschränkte Steuerpflicht) beseitigt.

2.§ 1 Abs. 3 EStG ist insbesondere für grenzüberschreitend berufstätige Steuerpflichtige von nicht unerheblicher praktischer Bedeutung. Liegen die Voraussetzungen für die fiktive unbeschränkte ESt-Pflicht vor, können zahlreiche personenbezogene Steuervergünstigungen (insbesondere der Splittingtarif) gewährt werden, die bei der ansonsten vorliegenden beschränkten Steuerpflicht nicht gestattet werden könnten.

3. Im Streitfall lebte die Steuerpflichtige in den Niederlanden und war als Physiotherapeutin in ihrer inländischen Praxis und damit grenzüberschreitend berufstätig. Der BFH hatte es also mit einem klassischen potenziellen Anwendungsfall des § 1 Abs. 3 EStG zu tun. § 1 Abs. 3 EStG stand deshalb im Streit, weil die Steuerpflichtige die überwiegenden Einkünfte zwar in Deutschland erzielt, aber noch weitere niederländische Bezüge vereinnahmt hatte. Deshalb war fraglich, ob die in § 1 Abs. 3 EStG genannte relative Wesentlichkeitsgrenze von 90 % überschritten war. Denn nur wenn die wesentlichen Einkünfte in Deutschland erzielt werden, ist es gesetzlich angezeigt, dass Deutschland als Nichtwohnsitzstaat ausnahmsweise auch die personenbezogenen Steuervergünstigungen gewähren muss. Das ist die Grundidee der im Nachgang zum Schumacker-Urteil des EuGH (EuGH, Urteil vom 14.2.1995, C-279/93, Haufe-Index 541169) geschaffenen Regelung des § 1 Abs. 3 EStG.

4. Laut BFH muss für die Anwendung der Wesentlichkeitsgrenzen folgende Prüfung vorgenommen werden:

a) Zunächst muss im ersten Schritt die Summe der Welteinkünfte ermittelt werden. Diese Prüfung beruht auf der Annahme einer unbeschränkten ESt-Pflicht. Für die Einkünfteermittlung ist das deutsche ESt-Recht maßgeblich, d.h. Einkünftequalifikation und Einkünfteermittlung richten sich nach § 2 Abs. 1 bis 3 EStG.

Steuerfreie Einnahmen (z.B. gemäß § 3 EStG) werden...

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