2.1 1Die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 setzt voraus, dass nachträglich ein Ereignis eingetreten ist, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. 2Hierzu rechnen alle rechtlich bedeutsamen Vorgänge, aber auch tatsächlichen Lebensvorgänge, die steuerlich - ungeachtet der zivilrechtlichen Wirkungen - in der Weise Rückwirkung entfalten, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist (BFH-Beschluss GrS vom 19.7.1993 - GrS 2/92 - BStBl II, S. 897, m.w.N.).

2.2 1Ob einer nachträglichen Änderung des Sachverhaltes rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, bestimmt sich allein nach dem jeweils einschlägigen materiellen Steuerrecht. 2Nach diesem ist zu beurteilen, ob zum einen eine Änderung des ursprünglich gegebenen Sachverhalts den Steuertatbestand überhaupt betrifft und ob sich darüber hinaus der bereits entstandene materielle Steueranspruch mit steuerlicher Rückwirkung ändert (BFH-Beschluss GrS vom 19.7.1993, a.a.O.).

3Der Fall eines rückwirkenden Ereignisses liegt vor allem dann vor, wenn die Besteuerung nach dem maßgeblichen Einzelsteuergesetz nicht an Lebensvorgänge, sondern unmittelbar oder mittelbar an Rechtsgeschäfte, Rechtsverhältnisse oder Verwaltungsakte anknüpft und diese Umstände nachträglich mit Wirkung für die Vergangenheit gestaltet werden (BFH-Urteil vom 21.4.1988 - IV R 215/85 - BStBl II, S. 863).

4Nach § 175 Abs. 2 Satz 2 gilt die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung nicht als rückwirkendes Ereignis. 5§ 175 Abs. 2 Satz 2 ist nicht auf die Bescheinigung der anrechenbaren Körperschaftsteuer bei verdeckten Gewinnausschüttungen anzuwenden (siehe hierzu und zum Anwendungszeitraum der Vorschrift Art. 97 § 9 Abs. 3 EGAO). 6Beweismittel, die ausschließlich dazu dienen, eine steuerrechtlich relevante Tatsache zu belegen und die als solche keinen Eingang in eine materielle Steuerrechtsnorm gefunden haben, sind auch dann kein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, wenn sie erst nach Bestandskraft eines Bescheids beschafft werden können; ggf. kommt hier aber § 173 zur Anwendung.

7Eine rückwirkende Änderung steuerrechtlicher Normen ist kein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 (BFH-Urteil vom 9.8.1990 - X R 5/88 - BStBl 1991 II, S. 55).

8Auch eine Entscheidung des BVerfG stellt kein rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 175 Abs. 1 Nr. 2 dar (vgl. u.a. BFH-Urteil vom 12.5.2009 - IX R 45/08 - BStBl II, S. 891).

2.3 1Die Änderung des Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ist nur zulässig, wenn das rückwirkende Ereignis nachträglich, d. h. nach Entstehung des Steueranspruchs und nach dem Erlass des Steuerbescheides (ggf. des zuletzt erlassenen Änderungsbescheides) eingetreten ist. 2Die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO liegen nicht vor, wenn das Finanzamt - wie im Fall des § 173 Abs. 1 - lediglich nachträglich Kenntnis von einem bereits gegebenen Sachverhalt erlangt (vgl. BFH-Urteil vom 6.3.2003 - XI R 13/02 - BStBl II, S. 554).

3Ist im Einzelfall die Änderung des Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ausgeschlossen, kann in Fällen, in denen das Ereignis zwar schon vor Erlass des Steuerbescheides eingetreten, dem Finanzamt jedoch erst nachträglich bekannt geworden ist, die Änderung des Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 in Betracht kommen (vgl. BFH-Urteil vom 17.3.1994 - V R 123/91 - BFH/NV 1995 S. 274).

2.4 Beispiele für rückwirkende Ereignisse:

Praxis-Beispiel

Einkommensteuer

§ 4 Abs. 2 Satz 1 EStG

1Wird ein für das Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahres maßgebender Wertansatz korrigiert, der sich auf die Höhe des Gewinns der Folgejahre auswirkt, so stellt dies ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung hinsichtlich der Veranlagung für die Folgejahre dar (BFH-Urteil vom 30.6.2005 - IV R 11/04 - BStBl II, S. 809). 2Zu den Auswirkungen auf die Verzinsung nach § 233a vgl. zu § 233a, Nr. 10.3.2.

§ 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG

Wird nachträglich die 15-v.H.-Grenze i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG überschritten, so stellt dies ein rückwirkendes Ereignis dar.

§ 6b EStG

Die Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG kann vom Steuerpflichtigen rückwirkend aufgestockt werden, wenn sich der Veräußerungspreis in einem späteren Veranlagungszeitraum erhöht (vgl. BFH-Urteil vom 13.9.2000 - X R 148/97 - BStBl 2001 II, S. 641).

§ 10 EStG (Folgen der Erstattung von Sonderausgaben in einem späteren Veranlagungszeitraum)

1Werden gezahlte Sonderausgaben in einem späteren Veranlagungszeitraum an den Steuerpflichtigen erstattet, ist der Erstattungsbetrag aus Gründen der Praktikabilität im Erstattungsjahr mit gleichartigen Sonderausgaben zu verrechnen. 2Ist im Jahr der Erstattung der Sonderausgaben an den Steuerpflichtigen ein Ausgleich mit gleichartigen Aufwendungen nicht oder nicht in voller Höhe möglich, so ist der Sonderausgabenabzug des Jahres der Verausgabung rückwirkend zu mindern (BFH-Urteil vom 7.7.2004 - XI R 10/04 - BStBl II, S...

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