In Deutschland gilt das Spruchrichterprivileg, wonach Richter (und damit der Staat) nur wegen einer Amtspflichtverletzung in Anspruch genommen werden können, wenn ein Urteil oder eine urteilsähnliche Entscheidung gleichzeitig eine Straftat darstellt.

Der EuGH hat jedoch in der Rechtssache Gerhard Köbler gegen die Republik Österreich die Staatshaftung bei einem Verstoß gegen EU-Recht durch ein letztinstanzliches nationales Gericht bestätigt. Er hat in einem vom Landesgericht für Zivilsachen Wien ausgelösten Vorabentscheidungsverfahren entschieden, dass die in der EuGH-Rechtsprechung entwickelte Haftung eines Mitgliedsstaats gegenüber seinen Bürgern auch durch nationale Höchstgerichte ausgelöst werden kann.[1] Der EuGH hat darauf verwiesen, dass der Grundsatz der Staatshaftung unabhängig davon gilt, welches mitgliedschaftliche Organ durch sein Tun oder Unterlassen den Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begangen hat. Der Staat ist insoweit als Einheit zu betrachten. Alle staatlichen Gewalten, auch die Gerichte, sind an das Gemeinschaftsrecht gebunden.[2]

Für einen Ersatzanspruch wegen judikativem Unrecht müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:[3]

  • die verletzte gemeinschaftsrechtliche Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen,
  • der Verstoß ist hinreichend qualifiziert (Offenkundigkeit des Verstoßes),
  • zwischen dem Verstoß und dem Schaden besteht ein kausaler Zusammenhang.[4]

Bei der Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, muss das mit der Schadenersatzklage befasste nationale Gericht alle Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigen. Die Haftung ist nur begründet, wenn der Verstoß offenkundig ist[5], d. h. das mit der Entscheidung befasste Gericht das geltende europäische Recht und die einschlägige Rechtsprechung des EuGH offenkundig verkannt hat. Der EuGH legt einen für den Geschädigten strengen Maßstab an, da die Offenkundigkeit des Verstoßes nur vorliegt, wenn das zur Entscheidung berufene Gericht objektiv willkürlich gehandelt hat und der Rechtsverstoß jedem hätte einleuchten müssen.[6] Als Anhaltspunkte für einen offenkundigen Verstoß können in Zusammenhang exemplarisch die Kriterien

  • Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift,
  • die Vorsätzlichkeit des Verstoßes,
  • die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums,
  • das völlige Verkennen einer einschlägigen EuGH-Rechtsprechung

herangezogen werden.[7]

War hingegen die Rechtsfrage weder nach den Normen des Gemeinschaftsrechts noch anhand der bisherigen Rechtsprechung der europäischen Gerichte zweifelsfrei und eindeutig zu beantworten, liegt ein offenkundiger Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht nicht vor.[8]

Wie bereits erwähnt, wurde die Möglichkeit einer Haftung für judikatives Unrecht unter europarechtlichen Gesichtspunkten bisher nur für letztinstanzlich urteilende Gerichte angenommen, was damit begründet wird, dass der Geschädigte die Möglichkeit hat, Fehlentscheidungen durch die Inanspruchnahme des Instanzenzuges korrigieren zu lassen.[9]

[2] Tremml/Karger/Luber, Der Amtshaftungsprozess, 4. Aufl. 2013 Rz. 1277 m. w. N.
[3] Ausführlich: Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011, S. 449 ff.
[4] Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2018 Rz. 1359; Schlaeger, NJW 2004, XIV; von Danwitz, JZ 2004 S. 301; Hampel, ZfZ 2004 S. 141.
[5] Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019 Rz. 469.
[6] Schmidt, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2018 Rz. 1359.
[7] Tremml/Karger/Luber, Der Amtshaftungsprozess, 4. Aufl. 2013 Rz. 1282, m. w. N.
[8] Baldus/Grzeszick/Wienhues, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 2018 Rz. 316 m. w. N.
[9] Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 8. Aufl. 2018, § 14 Rz. 17.

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