Entscheidungsstichwort (Thema)

Verpflichtung zur Rücknahme eines Haftungsbescheides nur bei Ermessensschrumpfung

 

Leitsatz (redaktionell)

  1. Die Entscheidung über die Rücknahme eines belastenden rechtswidrigen Verwaltungsaktes (hier: Haftungsbescheid) ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung, die nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliegt. Das Gericht kann eine Verpflichtung zur Rücknahme eines solchen Bescheides nur aussprechen, wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeschränkt ist, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt.
  2. Selbst wenn der Bescheid unter offensichtlichen und gravierenden Fehlern leidet, ist das Finanzamt zur Rücknahme eines Haftungsbescheides nach § 130 Abs. 1 AO nicht verpflichtet. Denn bei der Entscheidung, ob einem Begehren auf Rücknahme eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entsprechen ist, hat die Verwaltung im konkreten Fall abzuwägen, ob dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gerechtigkeit im Einzelfall oder dem Interesse der Allgemeinheit am Eintritt von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit der Vorzug zu geben ist.
 

Normenkette

AO § 130 Abs. 1

 

Streitjahr(e)

1997

 

Nachgehend

BFH (Beschluss vom 12.04.2005; Aktenzeichen VII B 81/04)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Beklagte einen Bescheid, mit dem er die Klägerin für Steuerschulden der Q-GmbH (GmbH) als Prokuristin in Haftung genommen hat, nach § 130 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) zurücknehmen muss.

Die GmbH wurde 1986 gegründet. Gegenstand ihres Unternehmens war die Herstellung und der Vertrieb von Gemeinschaftsverpflegung für Unternehmen sowie der Betrieb eines Gastronomie- und Party-Service. Von ihrem Stammkapital in Höhe von 50.000 DM übernahm die Klägerin 10.000 DM und ihr Ehemann (E) 40.000 DM. Zum alleinigen Geschäftsführer wurde E bestellt. Der Klägerin wurde Prokura mit der Maßgabe erteilt, dass sie die Gesellschaft allein vertrat. Die Prokura wurde ins Handelsregister beim Amtsgericht Hannover eingetragen.

Am 2. Juni 1997 gab E als gesetzlicher Vertreter der GmbH beim Amtsgericht W die eidesstattliche Versicherung ab. Ein Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens lehnte das Amtsgericht H mit Beschluss vom 12. Juni 1997 mangels Masse ab. Die Gesellschaft wurde wegen Vermögenslosigkeit von Amts wegen aus dem Handelsregister gelöscht.

Mit Schreiben vom 30. Juni 1997 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass er beabsichtige, sie gemäß § 69 AO für rückständige Steuern und steuerliche Nebenleistungen in Höhe von insgesamt 153.947,60 DM als Haftende in Anspruch zu nehmen. In dem Schreiben wies der Beklagte auf die allgemeinen Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme nach dieser Vorschrift hin und bat um Stellungnahme innerhalb eines Monats nach Erhalt des Schreibens.

Nachdem eine Reaktion der Klägerin ausgeblieben war, erließ der Beklagte am 25. August 1997 einen Haftungsbescheid über 161.041,60 DM. In dem Verwaltungsakt führte er aus, dass die Klägerin neben E gesamtschuldnerisch zur Haftung herangezogen werde. Die gesetzliche Haftungsgrundlage ergebe sich aus §§ 69, 35 AO, weil die Klägerin im Haftungszeitraum alleinvertretungsberechtigte Prokuristin gewesen sei. Der Bescheid wurde der Klägerin durch Niederlegung am 2. September 1997 förmlich zugestellt. Eine Rücksendung des Bescheides an den Beklagten durch die Post erfolgte nicht. Gegen den Bescheid erhob die Klägerin keinen Einspruch.

Mit Schriftsatz vom 16. November 2001 beantragte die Klägerin beim Beklagten, den Haftungsbescheid nach § 130 Abs. 1 AO zurück zu nehmen. Zur Begründung führte sie aus, dem Beklagten sei bekannt gewesen, dass sie und E sich in der letzten Phase der GmbH in einer psychischen und physischen Ausnahmesituation befunden hätten. Der Bescheid sei rechtswidrig, weil der Beklagte ohne weiteres von einer Prokuristenhaftung ausgegangen sei. Die Klägerin sei aber seinerzeit nur formal zur Prokuristin bestellt worden, um bei Bedarf für ihren Ehemann die Geschäfts der Gesellschaft führen zu können. Tatsächlich sei sie während der gesamten Zeit niemals mit Dritten in Kontakt getreten.

Der Beklagte lehnte den Antrag auf Rücknahme des Haftungsbescheids ab. Zur Begründung verwies er auf die Bestandskraft des Haftungsbescheids. Die Klägerin hätte die Möglichkeit gehabt, mit einen Einspruch gegen den Bescheid vorzugehen und dabei auf die tatsächlich Situation hinzuweisen. Dieser Umstand stehe einer zu prüfenden Rücknahme des Haftungsbescheids im vorliegenden Fall nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) grundsätzlich entgegen. Darüber hinaus sei der Bescheid auch rechtmäßig, weil die Klägerin zum Personenkreis der Verfügungsberechtigten im Sinne des § 35 AO gehört habe.

Gegen den Ablehnungsbescheid erhob die Klägerin Einspruch. Sie führte ergänzend zu ihrem Antrag aus, der Beklagte müsse den Haftungsbescheid unter Berücksichtigung seiner Verpflichtung zu einer ermessensgerechten Entscheidung zurücknehmen. Die Klägerin habe während der gesamten Zeit keinen Einfluss...

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