4.11.1 "Europatauglichkeit" der Vorschrift – grundsätzliches EuGH-Verfahren "Lasteyrie du Saillant"

Mit Urteil vom 11.3.2004[1]"Lasteyrie du Saillant" hat der EuGH die französische Regelung des Art. 167 bis CGI mit der in Art. 52 EGV verankerten Niederlassungsfreiheit für unvereinbar erklärt. Nach dieser Vorschrift werden bei Steuerpflichtigen, die ihren steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegen, noch nicht realisierte Wertsteigerungen (latente Wertsteigerungen) von Unternehmensbeteiligungen besteuert, während latente Wertsteigerungen bei Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz in Frankreich behalten, keiner Steuer unterliegen. Art. 167 bis CGI sieht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit eines Zahlungsaufschubs vor; allerdings ist die Gewährung eines solchen Aufschubs von einer Sicherheitsleistung durch den Steuerpflichtigen abhängig. Soweit die Beteiligungen, bei denen die Wertsteigerung eingetreten ist, nach fünf Jahren noch im Vermögen des Betroffenen sind oder dieser vor Ablauf der fünf Jahre nach Frankreich zurückkehrt, wird die festgesetzte Steuer von Amts wegen erlassen.

Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit liegt nach Auffassung des Gerichtshofs darin, dass die Regelung für Steuerpflichtige, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, "zumindest abschreckende Wirkung" entfalte.[2] Sie benachteilige Steuerpflichtige, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, gegenüber Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz in Frankreich behalten; denn letztere müssen Steuern nur für solche Wertsteigerungen entrichten, die sich tatsächlich realisieren.

Rechtfertigungsgründe hierfür liegen nicht vor. Insbesondere lehnt der Gerichtshof die vorgebrachten Gründe der Vorbeugung der Steuerflucht, Vermeidung von Steuermindereinnahmen sowie die Kohärenz des Steuersystems ab.

§ 6 AStG a. F. enthielt eine Regelung, die der französischen Regelung in ihrer Zielsetzung und Ausgestaltung sehr ähnlich ist.

4.11.2 Sonderregelungen für den Wegzug oder die Verlegung des Mittelpunkts der Lebensinteressen in einen EU-/EWR-Staat

Bedingt durch die Rechtsprechung des EuGH und ein eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren hat Deutschland mit dem SEStEG[1]§ 6 AStG grundlegend überarbeitet und – rückwirkend zum 1.1.2007[2] – Sonderregelungen, insbesondere ein Stundungskonzept eingeführt. Für den Wegzug eines EU-/EWR-Staatsangehörigen in einen EU-/EWR-Mitgliedstaaten erfolgten folgende Korrekturen:

  1. Die Einkommensteuer wird wie bisher unter Anwendung des § 6 AStG festgesetzt.
  2. Die auf der Anwendung des § 6 AStG beruhende Steuer wird von Amts wegen gestundet.
  3. Dies gilt aber nicht bei fehlender Vollstreckungsmöglichkeit (Liechtenstein).
  4. Die Stundung erfolgt zinslos und unter Vorbehalt des Widerrufs bei Veräußerung oder Wegzug in einen Drittstaat.
  5. Meldeverpflichtung: wenn nicht bis zum 31.12. eines jeden Jahres der Wohnsitz und die Eigentumsverhältnisse an der Beteiligung an das zuständige deutsche Finanzamt gemeldet werden, erfolgt ebenfalls eine Fälligkeitsstellung. Entsprechendes gilt auch im Fall der Ersatztatbestände (insbesondere Schenkung).

Einzelfragen der Steuerfestsetzung

Im Hinblick auf die eindeutige Aussage des EuGH zur zulässigen Abgrenzung der Besteuerungsrechte durch eine Wegzugsbesteuerung wird zur Erfassung der abwandernden stillen Reserven grundsätzlich auch beim Wegzug in einen EU-/EWR-Staat bzw. bei entsprechenden Ersatztatbeständen wie Schenkung an einen Empfänger, der in einem EU-/EWR-Staat ansässig ist, eine Steuer festgesetzt. Allerdings erfolgt nur im ersten Schritt eine Wertzuwachsbesteuerung. Im Falle einer späteren Realisierung wird grundsätzlich zur Besteuerung des tatsächlich realisierten Gewinns übergegangen. Die Regelung des § 6 Abs. 6 AStG n. F. sieht hierzu vor, dass die bei Wegzug festgesetzte Steuer rückwirkend zu ermäßigen ist, wenn der Anteilseigner bei einem nach dem Wegzug erfolgten Verkauf einen Preis erzielt, der unter dem der Steuerfestsetzung zugrunde gelegten gemeinen Wert liegt. Einschränkend ist bestimmt, dass es zu dieser Verlustberücksichtigung nur kommt, wenn der Zuzugsstaat diesen Veräußerungsverlust nicht berücksichtigt.

 
Praxis-Beispiel

Einzelfragen der Steuerfestsetzung

Der Steuerinländer hat eine Beteiligung mit AK von 100. Er zieht in den Staat B zu einem Zeitpunkt, als der gemeine Wert der Beteiligung bei 200 liegt. Im Jahr 05 erfolgt eine Veräußerung zum Preis von 150. Der ausländische Staat berücksichtigt einen Verlust von 50.

In diesem Fall erfolgt keine rückwirkende Korrektur der Wegzugsbesteuerung in Deutschland.

Alternative: Der ausländische Staat berücksichtigt keinen Verlust zwischen dem Zuzugswert und dem Veräußerungserlös.

Beispiel ohne Verlustberücksichtigung:

In diesem Fall ist grundsätzlich eine Korrektur der Wegzugsbesteuerung vorzunehmen.

Die nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO rückwirkende Korrektur ist aber nur vorzunehmen, wenn die Wertminderung betrieblich veranlasst ist (z. B. Wertverlust der Beteiligung aufgrund von wirtschaftlichen Entwicklungen nach dem Wegzug). Das Gesetz regelt auch den Hauptanwendungsfall: Die ausschüttungsbedingte Wertminderung. Hier ist z...

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