Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiskraft der Postzustellungsurkunde bei Ersatzzustellung nach § 181 Abs. 1 ZPO; keine Wiedereinsetzung bei verspätet vorgebrachten selbständigen Wiedereinsetzungsgründen

 

Leitsatz (NV)

1. Ob die Zustellung des angefochtenen Bescheides den gesetzlichen Vorschriften entsprach, ist von den Gerichten -- auch im Revisionsverfahren -- von Amts wegen zu prüfen.

2. Beurkundet der Postzusteller in der Postzustellungsurkunde eine Ersatzzustellung nach § 181 Abs. 1 ZPO (Zustellung in der Wohnung an einen zu der Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen oder an eine in der Familie dienende erwachsene Person), so erstreckt sich die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde als öffentliche Urkunde nicht darauf, daß der Empfänger die tatsächlichen Voraussetzungen der Ersatzperson gemäß § 181 Abs. 1 ZPO erfüllt.

3. War der Empfänger entgegen der Beurkundung weder Hausgenosse noch dienende Person i. S. des § 181 Abs. 1 ZPO, so ist die Zustellung auch dann rechtswidrig, wenn der Empfänger ein in demselben Hause wohnender Hauswirt oder Vermieter i. S. des § 181 Abs. 2 ZPO war.

4. Nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist des § 110 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 nachgeschobene selbständige Wiedereinsetzungsgründe sind unbeachtlich.

 

Normenkette

AO 1977 § 110 Abs. 1, 2 S. 1, § 122 Abs. 5; VwZG §§ 3, 9 Abs. 1; ZPO § 181 Abs. 1-2, § 191 Nr. 4, § 195 Abs. 2, § 418 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb einen Schmuckhandel. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) schätzte wegen Nichtabgabe der Umsatzsteuererklärung 1988 die Besteuerungsgrundlagen und setzte durch Bescheid vom 8. Januar 1991 Umsatzsteuer gegen den Kläger fest. Die vom FA angeordnete Zustellung durch die Post erfolgte am 9. Januar 1991. Der Post zusteller vermerkte auf der Postzustellungs urkunde, er habe den Empfänger (Kläger) selbst in der Wohnung nicht angetroffen und daher "die Sendung dort dem zu seiner Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen/im Dienst der Familie stehenden Erwachsenen" X übergeben.

Am 26. März 1991 reichte der Steuerbevollmächtigte (S) die Umsatzsteuererklärung 1988 des Klägers ein. Das FA wertete dies als Einspruch gegen den Bescheid vom 8. Januar 1991 und teilte S durch Schreiben vom 2. April 1991 mit, der Einspruch sei nicht fristgemäß eingegangen. Daraufhin beantragte S am 10. April 1991 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 der Abgabenordnung (AO 1977). Er brachte vor, der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, habe unmittelbar nach Zustellung des Bescheides in einer dringenden Familienangelegenheit nach Italien fahren müssen, so daß er keine Gelegenheit mehr gehabt habe, ihn -- S -- über die Zustellung zu informieren. Außerdem habe der Kläger angenommen, daß der Einspruch, den seine von ihm getrennt lebende Ehefrau gegen den Einkommensteuerbescheid 1988 eingelegt habe, auch für den Umsatzsteuerbescheid 1988 gelte.

Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, weil er verspätet eingelegt worden sei und Wiedereinsetzungsgründe nicht vor lägen.

Dagegen erhob der Kläger Klage. Er machte geltend, erst im März 1991 sei die Einspruchsfrist in Lauf gesetzt worden, so daß sein Einspruch vom 26. März 1991 rechtzeitig eingelegt worden sei; jedenfalls müsse ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Hierzu versicherte er an Eides Statt: Seit Ende 1990 wohne er bei der Familie X zur Untermiete. Er habe sich vom 6. bis 21. Januar 1991 in einer dringenden Familienangelegenheit und im Rahmen eines Kurzurlaubs in Italien aufgehalten. Von dem Bescheid, den Frau X am 9. Januar 1991 entgegengenommen habe, habe er erst im März 1991 im Zusammenhang mit einem Vollstrekungsversuch des FA erfahren. Nach einigem Suchen sei sodann der noch geschlossene Umschlag mit dem Bescheid gefunden worden.

Diese Darstellung wird im wesentlichen bestätigt von einer dem Finanzgericht (FG) vorgelegten eidesstattlichen Versicherung von Frau X, bei der es sich nach den Angaben des Klägers um die Ehefrau seines Vermieters handelt.

Das FG wies die Klage mit der Begründung ab, das FA habe zutreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt. Mit dem Vorbringen des Klägers, daß die Einspruchsfrist erst später zu laufen begonnen habe, befaßte sich das FG nicht. Es prüfte auch nicht, ob die Zustellung wirksam war.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung von § 181 der Zivilprozeßordnung (ZPO), § 110 AO 1977 und Art. 103 des Grundgesetzes -- GG -- (rechtliches Gehör). Er macht u. a. geltend, die Zustellung sei unwirksam gewesen, weil Frau X weder zu seiner Familie gehöre noch Hauswirt oder Vermieter gewesen sei. Jedenfalls müsse er sich ihr Verschulden nicht anrechnen lassen. Im übrigen sei seine im Klageverfahren vorgetragene ergänzende Begründung seines Wiedereinsetzungsantrages vom FG zu Unrecht nicht berücksichtigt worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanz gerichtsordnung -- FGO --).

1. Das FG ist ohne nähere Prüfung davon ausgegangen, der Umsatzsteuerbescheid 1988 sei dem Kläger durch Zustellung am 9. Januar 1991 wirksam bekanntgegeben worden (§ 122 Abs. 5 AO 1977, § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes -- VwZG --, § 181 ZPO), so daß der Einspruch vom 26. März 1991 verspätet war (§ 355 Abs. 1 AO 1977). Die vom FG getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, um zu beurteilen, ob die Zustellung des angefochtenen Bescheides den gesetzlichen Vorschriften entsprach. Dies ist von den Gerichten -- auch im Revisionsverfahren -- zu prüfen (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 12. Januar 1990 VI R 137/86, BFHE 160, 103, BStBl II 1990, 602, und vom 6. September 1990 IV R 7/90, BFH/NV 1991, 714, m. w. N.).

a) Im Streitfall ist der Umsatzsteuerbescheid 1988 nach den Eintragungen des Postzustellers in der Postzustellungsurkunde am 9. Januar 1991 durch Übergabe der Sendung an den zur Familie des -- nicht angetroffenen -- Klägers gehörenden erwachsenen Hausgenossen/im Dienst der Familie stehenden Erwachsenen X zugestellt worden. Beurkundet wurde mithin eine Ersatzzustellung gemäß § 181 Abs. 1 ZPO. Die Postzustellungsurkunde als öffentliche Urkunde i. S. des § 418 Abs. 1 ZPO erbringt zwar den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen, nicht aber der Verhältnisse, die sich der Wahrnehmung des Zustellungsbeamten entziehen (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 3. Juni 1991 2 BvR 511/89, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1992, 224; Beschluß des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 17. Februar 1992 AnwZ (B) 53/91, NJW 1992, 1963; Senatsurteil vom 1. August 1984 V R 66/84, BFHE 142, 102, BStBl II 1985, 110). Soweit es um das nach § 181 Abs. 1 ZPO maßgebende Verhältnis des Ersatzempfängers zur Person, der zugestellt werden soll, geht (zu der Familie gehörender erwachsener Hausgenosse oder in der Familie dienende erwachsene Person), handelt es sich nicht um die Beschreibung von Tatsachen oder Ereignissen, die der Zustellungsbeamte zuverlässig wahrgenommen hat, sondern um eine von ihm -- wenn auch (regelmäßig) nicht völlig ungeprüft -- vorausgesetzte Annahme, die eine Würdigung zugleich tatsächlicher und rechtlicher Art enthält. Daß der Empfänger die tatsächlichen Voraussetzungen der Ersatzperson gemäß § 181 Abs. 1 ZPO erfüllt, beurkundet (beweist) die Zustellungsurkunde mithin nicht (vgl. Stöber in Zöller, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 191 Rz. 10).

Nach dem Vorbringen der Beteiligten bestehen im Streitfall erhebliche Zweifel, ob die in der Postzustellungsurkunde genannte "X" erwachsener Hausgenosse des Klägers oder in seinem Dienst stehender Erwachsener war. Feststellungen hierzu fehlen; sie können nicht der Postzustellungsurkunde entnommen werden, die insoweit lediglich Indizwirkung hat (vgl. BVerfG-Beschluß in NJW 1992, 224; BGH-Beschluß in NJW 1992, 1963).

b) Den dargelegten Zweifeln muß das FG nachgehen. Dabei sind nur tatsächliche Feststellungen dazu zu treffen, ob die Voraussetzungen der vom Postzusteller beurkundeten Ersatzzustellung nach § 181 Abs. 1 ZPO vorlagen. Ob die Person, der der Bescheid ausgehändigt worden ist, Hauswirt oder Vermieter i.S. des § 181 Abs. 2 ZPO war, ist unerheblich, weil eine Ersatzzustellung nach dieser Vorschrift nicht gemäß § 195 Abs. 2, § 191 Nr. 4 ZPO beurkundet worden ist (vgl. BFH-Urteile vom 25. Mai 1976 VIII R 74/75, BFHE 119, 41, BStBl II 1976, 573, und vom 10. Oktober 1978 VIII R 197/74, BFHE 126, 359, BStBl II 1979, 209).

2. War die am 9. Januar 1991 vorgenommene Zustellung nicht wirksam, so kommt es für die Rechtzeitigkeit des Einspruchs gemäß § 9 Abs. 1 VwZG darauf an, wann dem Kläger der angefochtene Bescheid ausgehändigt worden ist. Nach der bezeichneten Vorschrift gilt ein Schriftstück, dessen formgerechte Zustellung nicht nachgewiesen werden kann oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat. Auch insoweit fehlen Feststellungen des FG.

3. Die Frage, wann die Bekanntgabe des Umsatzsteuerbescheides 1988 erfolgte, kann nicht deshalb offenbleiben, weil dem Kläger -- unterstellt, sein Einspruch wäre verspätet eingelegt worden -- etwa nach § 110 AO 1977 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müßte. Denn eine Wiedereinsetzung kommt im Streitfall nicht in Betracht.

a) War jemand ohne Verschulden verhindert, die Einspruchsfrist einzuhalten, so ist ihm gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 110 Abs. 2 Satz 1 AO 1977).

b) Der Kläger hat von der (angeblichen) Fristversäumnis durch das Schreiben des FA vom 2. April 1991 Kenntnis erlangt. Damit ist das etwaige Hindernis -- Unkenntnis der Fristversäumung -- entfallen. Die von ihm innerhalb der Monatsfrist des § 110 Abs. 2 AO 1977 vorgetragenen Gründe rechtfertigen keine Wiedereinsetzung. Soweit er vorgebracht hat, nach Zustellung des Bescheides nach Italien gefahren zu sein, hinderte ihn diese Reise nicht daran, rechtzeitig Einspruch einzulegen. Auch seine -- nicht näher belegte -- Annahme, der von seiner Ehefrau gegen den Einkommensteuerbescheid 1988 eingelegte Einspruch erstrecke sich auf den Umsatzsteuerbescheid 1988, war schuldhaft i. S. des § 110 Abs. 1 AO 1977.

c) Soweit der Kläger im Klageverahren -- nach Ablauf der Frist des § 110 Abs. 2 AO 1977 -- vorgetragen hat, er sei bereits vor Zustellung des Bescheides nach Italien gereist, handelt es sich um einen neuen Tatsachenvortrag, der nicht mehr berücksichtigt werden kann. Denn nach gefestigter Rechtsprechung muß der Antragsteller innerhalb der Antragsfrist diejenigen Umstände darlegen, aus denen sich ergibt, daß ihn hinsichtlich der Versäumung der Rechtsbehelfsfrist ein Verschulden nicht trifft. Nach Ablauf der Antragsfrist nachgeschobene selbständige Wiedereinsetzungsgründe sind unbeachtlich. Es ist lediglich zulässig, unvollständige Angaben zu erläutern oder zu ergänzen (vgl. BFH-Urteile vom 17. September 1987 III R 159/84, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Abgabenordnung, § 110, Rechtsspruch 15 unter 2. a, und vom 24. August 1990 VI R 178/85, BFH/NV 1991, 140 unter 2. b aa; zu § 56 FGO: BFH-Urteile vom 27. März 1985 II R 118/83, BFHE 144, 1, BStBl II 1985, 586; vom 21. Juli 1988 V R 87/83, BFHE 155, 177, BStBl II 1989, 60 unter B. 2.; BFH-Beschluß vom 20. Februar 1990 VII R 125/89, BFHE 159, 573, BStBl II 1990, 546 unter II. 3. a, sowie zu §§ 234, 236 ZPO: BGH-Beschluß vom 26. November 1991 XI ZB 10/91, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1993, 41).

 

Fundstellen

BFH/NV 1995, 278

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