Leitsatz (amtlich)

1. Währungsausgleichsbeträge, die im Jahre 1976 aufgrund der VO Nr. 2539 und Nr. 3004/76 erhoben wurden, waren Abschöpfungen i. S. des § 1 AbG; auf sie sind die für Zölle geltenden Vorschriften anzuwenden.

2. Hat der Steuerpflichtige ein Rechtsbehelfsverfahren deswegen nicht angestrengt, weil er die Unrichtigkeit des Steuerbescheids weder erkannte noch erkennen mußte, so verpflichtet dieser Umstand für sich allein das HZA noch nicht, den Bescheid nach Eintritt der Bestandskraft auf Antrag des Steuerpflichtigen zu ändern (Anschluß an BFH-Urteil vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507).

 

Normenkette

AbG §§ 1, 2 Abs. 1; AO 1977 § 172 Abs. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) stellt Futtermittel her und handelt damit. In den Monaten November und Dezember 1976 führte sie aus den Niederlanden mehrere Sendungen mit Molkenpulver der Tarifst. 04.02 A I des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) ein. Ein dem Beklagten und Revisionskläger (Hauptzollamt – HZA –) unterstehendes Zollamt (ZA) fertigte diese Waren zum freien Verkehr ab und erhob aufgrund der Verordnung (EWG) Nr. 2539/76 (VO Nr. 2539/76) der Kommission vom 19. Oktober 1976 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften – ABlEG – L 289/1 vom 20. Oktober 1976) und der Verordnung (EWG) Nr. 3004/76 (VO Nr. 3004/76) der Kommission vom 10. Dezember 1976 (ABlEG L 342/23 vom 11. Dezember 1976) Währungsausgleichsbeträge in Höhe von insgesamt 47 662,10 DM. Diese Abgabenfestsetzungen sind bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 2. Dezember 1977 beantragte die Klägerin beim HZA, diese Festsetzungen aufzuheben und ihr die Währungsausgleichsbeträge zu erstatten, da die Erhebung des Währungsausgleichs auf Molkenpulver gegen EG-Recht verstoße. Dabei berief sie sich auf das damals beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) anhängige Vorabentscheidungsverfahren Rs. 131/77; in diesem entschied der EuGH später durch Urteil vom 3. Mai 1978 (EuGHE 1978, 1041), daß eine den beiden zitierten Verordnungen entsprechende frühere Verordnung, die Verordnung (EWG) Nr. 539/75 (VO Nr. 539/75) der Kommission vom 28. Februar 1975 (ABlEG L 57/2 vom 3. März 1975), ungültig sei, soweit sie Währungsausgleichsbeträge für den Handel mit Molkenpulver festsetze.

Das HZA lehnte den Antrag durch Bescheid vom 18. Oktober 1978 mit der Begründung ab, die Bescheide seien bestandskräftig, die Änderung nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) stehe im Ermessen der Behörde, und ein besonderer Ausnahmefall, der eine Änderung eines bestandskräftigen Bescheides rechtfertige, liege nicht vor.

Das Finanzgericht (FG) verpflichtete das HZA, unter Änderung der Bescheide den Währungsausgleich um 47 662,10 DM herabzusetzen, und verurteilte das HZA, der Klägerin diese Beträge zu erstatten und vom 6. April 1979 an bis zum Auszahlungstag nach Maßgabe der Vorschriften der §§ 238, 239 AO 1977 zu verzinsen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des HZA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.

Das FG hat ohne Rechtsirrtum entschieden, daß Rechtsgrundlage für die Entscheidung über die Klage § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ist.

Währungsausgleichsbeträge, die im Jahre 1976 aufgrund der VO Nr. 2539/76 und Nr. 3004/76 erhoben wurden, waren Abschöpfungen i. S. des § 1 des Abschöpfungserhebungsgesetzes (AbG). Ihre Erhebung war durch eine Verordnung der EWG zugelassen, die auf dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) beruht (VO Nr. 974/71).

Nach § 2 AbG finden also die für Zölle geltenden Vorschriften Anwendung (vgl. Bail/Schädel/Hutter, Kommentar Zollrecht, G Rdnr. 15). Dazu gehöre auch die Bestimmung des § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977.

Diese Bestimmung findet im vorliegenden Fall trotz des Umstandes Anwendung, daß die zu berichtigenden Bescheide vor dem Inkrafttreten der AO 1977 ergangen sind. Das ergibt sich, wie das FG zu Recht entschieden hat, aus Art. 97 § 9 EGAO 1977. Danach entscheidet sich die Frage, ob ein vor dem 1. Januar 1977 erlassener Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern ist, jedenfalls dann nach dem Recht der AO 1977, wenn Antrag und ablehnende Verwaltungsentscheidung nach dem genannten Stichtag liegen.

Die Änderung eines bestandskräftigen Bescheides nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zugunsten des Steuerpflichtigen steht im Ermessen des HZA. Die Ablehnung der Änderung ist im Regelfall nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Steuerpflichtige in der Lage war, die für die Berichtigung vorgebrachten Gründe im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Abgabenbescheid geltend zu machen. Mit dieser Begründung kann das HZA die Berichtigung nur dann nicht ablehnen, wenn vom Steuerpflichtigen die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht erwartet werden konnte. Das hat der erkennende Senat zu §§ 5, 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 unter Übernahme der gleichlautenden Rechtsprechung zu § 94 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) entschieden (Urteil vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507). Er hält an dieser Entscheidung, auf deren Gründe er verweist, fest. Auch das FG ist von diesen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Es hat ihre rechtliche Bedeutung und Tragweite aber erkannt. Die Klägerin erfüllt nach dem vom FG festgestellten Sachverhalt nicht die Voraussetzungen, die nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gegeben sein müßten, damit sich der Ermessensspielraum des HZA so einengt, daß nur noch eine Entscheidung, nämlich die beantragte Berichtigung, rechtsfehlerfrei getroffen werden kann.

Nach Auffassung des FG konnte von der Klägerin billigerweise nicht erwartet werden, daß sie Rechtsbehelfe gegen die ergangenen Steuerbescheide einlegte, weil sie „die die Berichtigung der Bescheide rechtfertigenden Gründe damals weder erkannt hatte noch bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt den Umständen nach hätte erkennen müssen”. Das FG hat verkannt, daß die Schwierigkeit für die Klägerin, die Ungültigkeit der den Steuerbescheiden zugrunde liegenden Normen des Gemeinschaftsrechts und damit die Fehlerhaftigkeit der Bescheide zu erkennen, für sich allein kein Grund ist, unter Außerachtlassung der Vorschriften über die Bestandskraft von Bescheiden dem Steuerpflichtigen praktisch einen Rechtsanspruch auf Berichtigung nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist zu verleihen. Wollte man in allen Fällen der von vornherein nicht ohne weiteres erkennbaren Unrichtigkeit von Steuerbescheiden einem Steuerpflichtigen, der nach Ablauf der Einspruchsfrist aufgrund von höchstrichterlichen Urteilen oder auf andere Weise von der Unrichtigkeit der Bescheide erfährt, einen Rechtsanspruch auf Berichtigung gewahren, so wäre der Grundsatz der Bestandskraft von Steuerbescheiden wesentlich durchbrochen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß dies dem Sinn und Zweck des § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 entspricht

Die Regelung über die Bestandskraft von Verwaltungsakten beruht auf der Wertung des Gesetzgebers, nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist dem Gedanken der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens grundsätzlich den Vorrang vor dem Gedanken der Einzelfallgerechtigkeit einzuräumen. Wie sehr dabei der Gedanke der Rechtssicherheit nach dem Willen des Gesetzgebers überwiegt, belegt die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG für einen dem vorliegenden vergleichbaren Fall. Nach dieser Bestimmung bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen unberührt von Entscheidungen des BVerfG, durch die eine Rechtsnorm für nicht erklärt worden ist. Diese Regelung beruht auf der Entscheidung des Gesetzgebers, bei der Behandlung von rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen und bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen, die eine für nichtig erklärte Norm zur Grundlage haben, dem Gedanken der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens vor jenem des Rechtsschutzes des einzelnen den Vorrang zu geben (vgl. Leibholz/Rupprecht, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 79 Anm. 1, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BVerfG). Wenn sogar in Fällen, in denen die materiell-rechtliche Unrichtigkeit von Verwaltungsakten durch mit der Verbindlichkeit des § 31 BVerfGG ausgestaltete Entscheidungen des BVerfG belegt ist, der Gesetzgeber den Gedanken der Rechtssicherheit höher bewertet, kann nicht angenommen werden, der Gesetzgeber des § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sei von einer anderen Wertung ausgegangen und habe in Fällen, in denen der EuGH durch Urteile – die über Art. 177 EWGV für die nationalen Gerichte in ähnlicher Weise verbindlich sind wie die Entscheidungen des BVerfG nach § 31 BVerfGG – Normen des Gemeinschaftsrechts für ungültig erklärt hat, der Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang einräumen wollen.

Fehl geht das Gegenargument des FG, die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG gelte ausweislich ihres Wortlautes nur vorbehaltlich einer besonderen gesetzlichen Regelung, und § 172 AO 1977 enthalte eine solche. Die letztere Bestimmung regelt gerade nicht im einzelnen die Frage, wann der Gedanke des Rechtsschutzes des einzelnen Vorrang hat. Dies ist der Vorschrift vielmehr nur durch Auslegung zu entnehmen. Bei dieser Auslegung sind aber Wertungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen. Eine solche enthält in deutlicher Form § 79 Abs. 2 BVerfGG.

Die bisherige Rechtsprechung des Senats steht dieser Auffassung nicht entgegen. Ausnahmefälle, in denen vom Steuerpflichtigen die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht erwartet werden konnte, hat der Senat stets nur dann als gegeben erachtet, wenn besondere konkrete Umstände des Einzelfalles den Steuerpflichtigen von der Einlegung eines Rechtsbehelfs abhielten und abhalten konnten (Urteile vom 15. Oktober 1968 VII 40/65, BFHE 94, 41: Nur Teilanfechtung wegen Stellung eines Antrages auf verbindliche Zolltarifauskunft; vom 3. Dezember 1968 VII R 36/66, BFHE 94, 312: Der Steuerpflichtige hatte von einem Sachmangel der eingeführten Ware nicht rechtzeitig Kenntnis; vom 21. November 1968 VII 3/65, BFHE 94, 306: Nur Teilanfechtung bei Serieneinfuhren; vom 16. Juni 1976 VII R 125/73, BFHE 119, 326: Bestehen von ermessenseinengenden Regelungen der Verwaltung über Präferenznachweise; vom 6. Juli 1976 VII R 98/73, BFHE 120, 2: Teilweise Berichtigung durch die Verwaltung selbst aufgrund eines Betriebsprüfungsberichts; vom 24. April 1979 VII R 82/75, BFHE 127, 559: Bestehen einer verbindlichen Zolltarifauskunft zugunsten des Steuerpflichtigen). Keiner dieser Fälle ist mit dem vorliegenden vergleichbar. Keines dieser Urteile enthält Anhaltspunkte dafür, der Senat habe die Meinung vertreten, § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO oder § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ermögliche eine Durchbrechung der Regeln über die Bestandskraft in all jenen Fällen, in denen eine rechtzeitige Anfechtung unterblieben ist, weil der Steuerpflichtige den Bescheid für richtig hielt und für richtig halten konnte.

Auch nach § 173 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 hat die Klägerin keinen Rechtsanspruch auf die beantragte Berichtigung. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob diese Vorschrift auch auf Bescheide über Währungsausgleichsbeträge entsprechend anwendbar ist. Jedenfalls ist weder das Vorabentscheidungsersuchen des FG des Saarlandes vom 15. September 1977 noch die VO Nr. 1824/77 oder das EuGH-Urteil in EuGHE 1978, 1041 eine Tatsache i. S. der genannten Bestimmung. Eine solche Tatsache ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder materieller Art; Schlußfolgerungen aller Art, insbesondere auch juristische Subsumtionen und darauf beruhende Gerichtsentscheidungen sind keine Tatsachen in diesem Sinn (vgl. BFHE 133, 13, 18, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).

Zu Unrecht beruft sich die Klägerin auf die VO Nr. 1430/79. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Verordnung überhaupt die Erstattung von Eingangsabgaben für Fälle der vorliegenden Art vorsieht. Jedenfalls ist diese Verordnung, wie der EuGH durch Urteil vom 27. Mai 1982 Rs. 113/81 (Recht der internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters 1982 S. 513) entschieden hat, auf eine vor ihrem Inkrafttreten getroffene Entscheidung der nationalen Zollbehörde nicht anwendbar.

Das Gemeinschaftsrecht steht, wie zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, dieser Entscheidung nicht entgegen. Nach dem Urteil des EuGH vom 12. Juni 1980 Rs. 130/79 (EuGHE 1980, 1887) richten sich alle mit der Rückerstattung von Währungsausgleichsbeträgen aufgrund unwirksamer Kommissionsverordnungen zusammenhängenden Fragen nach nationalem Recht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 510479

BFHE 1983, 433

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