Entscheidungsstichwort (Thema)

Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte

 

Leitsatz (NV)

Hat ein Arbeitnehmer zwei Wohnungen, von denen er sich abwechselnd zur Arbeitsstätte begibt, so sind die Aufwendungen für seine Fahrten von der weiter entfernt liegenden Wohnung ohne Rücksicht auf die Entfernung zur Arbeitsstätte als Werbungskosten zu berücksichtigen, wenn die weiter entfernt liegende Wohnung den örtlichen Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitsnehmers bildet. Dabei ist unerheblich, ob der Arbeitnehmer die arbeitstägliche Rückfahrt zur entfernt gelegeneren Wohnung im Hinblick auf die damit verbundenen Strapazen auf Dauer bewältigen kann (Anschluß an BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221).

 

Normenkette

EStG § 9 Abs. 1 Nr. 4

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) und ihr im Jahre 1982 verstorbener Ehemann verlegten 1978 ihren Hauptwohnsitz von A nach B in das dortige, den Eheleuten gehörende Einfamilienhaus. Die in A gemietete Wohnung wurde beibehalten, da die Klägerin weiterhin in A und der Ehemann weiter in C (41 km von A entfernt) ihrer bisherigen Beschäftigung nachgingen.

In den Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1979 und 1980 machte der Ehemann der Klägerin folgende Aufwendungen für Fahrten mit dem eigenen Kfz zwischen Wohnung und Arbeitsstätte geltend:

1979

108 Fahrten von A nach C (41 km) 1 594,08 DM

114 Fahrten von B nach C (241 km) 9 890,64 DM

1980

138 Fahrten von A nach C 2 036,88 DM

84 Fahrten von B nach C 7 287,84 DM

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erkannte die Aufwendungen für die Fahrten von B nach C nicht als Werbungskosten an, sondern ließ nur die Kosten für insgesamt jeweils 222 Fahrten von A nach C zum Abzug zu.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klagen ab. Es führte zur Begründung aus:

Habe ein Arbeitnehmer zwei Wohnungen, von denen aus er sich abwechselnd zu seiner Arbeitsstätte begebe, so könnten die Aufwendungen für die Fahrten von jeder dieser Wohnungen nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 20. Dezember 1982 VI R 64/81 (BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306) Werbungskosten sein. Kosten für Fahrten von der weiter entfernt liegenden Wohnung seien aber nur dann zu berücksichtigen, wenn der Arbeitnehmer dort den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen habe. Liege diese Wohnung aber so weit von der Arbeitsstätte entfernt, daß ein Arbeitnehmer eine solche Fahrt mit dem von ihm benutzten Beförderungsmittel wegen des damit verbundenen Zeitaufwands und der hierdurch entstehenden Strapazen arbeitstäglich ,,in der Regel" nicht auf sich nehmen würde, so seien die Fahrtkosten nicht abzugsfähig. Dabei komme es darauf an, ob Arbeitnehmer allgemein solche Strapazen auf sich nehmen würden. Das sei zu verneinen.

Die Fahrtkosten könnten auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Familienheimfahrten im Sinne einer doppelten Haushaltsführung anerkannt werden. Da die Eheleute die Wohnung aus privaten Gründen von A nach B verlegt hätten, sei die doppelte Haushaltsführung nicht beruflich veranlaßt.

Mit ihren Revisionen rügt die Klägerin die Verletzung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Sie führt aus, zu Unrecht habe das FG seine Rechtsauffassung auf das Urteil in BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306 gestützt. Unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung habe der BFH im Urteil vom 13. Dezember 1985 VI R 7/83 (BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221) entschieden, daß auch die Fahrtkosten von einer zweiten, weiter vom Arbeitsort entfernt gelegenen Wohnung Werbungskosten darstellten, sofern diese Wohnung den Lebensmittelpunkt des Steuerpflichtigen bilde und nicht Aufwendungen für nur einmal wöchentlich zu berücksichtigende Familienheimfahrten im Rahmen einer beruflich veranlaßten doppelten Haushaltsführung nach § 9 Abs. 1 Nr. 5 Satz 3 EStG oder entsprechende Kosten für ledige Arbeitnehmer nach § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG mit Erfolg geltend gemacht würden. In den Streitfällen scheide eine Berücksichtigung der Fahrtkosten nach den Grundsätzen der doppelten Haushaltsführung aus.Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidungen aufzuheben und die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1979 und 1980 in der Form der Einspruchsentscheidungen dahin zu ändern, daß weitere Werbungskosten bei den Einkünften des Ehemannes aus nichtselbständiger Arbeit für 1979 in Höhe von 8 177 DM und für 1980 in Höhe von 6 048 DM berücksichtigt werden.

Das FA beantragt, im Hinblick auf die zwischenzeitlich geänderte Rechtsprechung des BFH, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Sachen zur weiteren Tatsachenfeststellung an das FG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen werden gemäß § 121, § 73 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu gemeinsamer Entscheidung verbunden. Sie führen zur Aufhebung der Vorentscheidungen und zur Zurückverweisung der Sachen an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Zutreffend ist das FG zunächst davon ausgegangen, daß die streitigen Fahrtkosten nicht als Familienheimfahrten im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 3 EStG) berücksichtigt werden können. Hiervon gehen übereinstimmend auch die Prozeßbeteiligten aus. Eine aus beruflichem Anlaß begründete doppelte Haushaltsführung (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 1 EStG) kommt in den Streitfällen schon deswegen nicht in Betracht, weil für die Verlegung des Hauptwohnsitzes von A nach B nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des FG allein private Gründe maßgebend waren.

2. Dem FG ist jedoch nicht zu folgen, soweit es den Werbungskostenabzug der streitigen Fahrtkosten mit der Erwägung verneint hat, daß ein Arbeitnehmer ,,in der Regel" die mit einer arbeitstäglichen Hin- und Rückfahrt von B nach C verbundenen Strapazen nicht auf sich genommen hätte.

a) Unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (vgl. dazu BFH-Urteile vom 10. November 1978 VI R 112/75, BFHE 126, 518, BStBl II 1979, 222; in BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306) hat der Senat in BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221 ausgeführt, daß es für die Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für Fahrten zwischen der weiter entfernt liegenden Wohnung, die den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitnehmers bildet, und der Arbeitsstätte weder auf die Angemessenheit der Kosten noch darauf ankommt, ob der Arbeitnehmer die arbeitstägliche Hin- und Rückfahrt auf die Dauer bewältigen könne. Er hat dies neben dem Hinweis auf Praktikabilitätsgründe und auf das Bemühen des Gesetzgebers um die Beseitigung steuerlicher Schranken, die der Mobilität der Arbeitnehmer in der heutigen Zeit des häufigen Berufs- und Arbeitsplatzwechsels entgegenstehen könnten, vor allem damit begründet, daß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG bezüglich der Entfernung der Wohnung zur Arbeitsstätte keine Einschränkungen enthält. Ebensowenig lasse sich aus dem allgemeinen Werbungskostenbegriff des § 9 Abs. 1 Saz 1 EStG ein Tatbestandsmerkmal entnehmen, das die Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG davon abhängig mache, ob ein Arbeitnehmer bei dem von ihm regelmäßig benutzten Beförderungsmittel arbeitstäglich die Fahrt zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte auf sich nehmen würde, um seiner Arbeit am Beschäftigungsort nachgehen zu können (näher: Urteil in BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221, 223 f.).

b) Entsprechend diesen Grundsätzen, an denen der Senat auch in der Folgezeit festgehalten hat (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 22. September 1988 VI R 118/85, BFH/NV 1989, 158; vom 2. Dezember 1988 VI R 190/85, BFH/NV 1989, 576), kommt es für die Abzugsfähigkeit der streitigen Fahrtkosten neben deren Nachweis bzw. Glaubhaftmachung allein darauf an, ob der verstorbene Ehemann der Klägerin in der fraglichen Zeit den örtlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in B unterhielt.

Die zeitlich vor dem Urteil in BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221 ergangenen Vorentscheidungen sind aufzuheben, da sie von der dargelegten neueren Rechtsauffassung des erkennenden Senats abweichen.

Die Sachen sind nicht spruchreif. Das FG hat - aus seiner Sicht zu Recht - keine Feststellungen darüber getroffen, wo sich der örtliche Mittelpunkt der Lebensinteressen des verstorbenen Ehemannes in den Streitjahren befand. Entsprechende Feststellungen wird das FG nunmehr nachholen müssen. Zu den Gesichtspunkten, die bei der Frage, wo sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen eines Arbeitnehmers befindet, eine Rolle spielen können, verweist der Senat insbesondere auf seine Entscheidungen vom 10. November 1978 VI R 21/76 (BFHE 126, 511, BStBl II 1979, 219) und VI R 240/74 (BFHE 126, 522, BStBl II 1979, 224); vom 2. Februar 1979 VI R 108/75 ( BFHE 127, 37, BStBl II 1979, 338); vom 2. August 1985 VI R 171/82 (BFH/NV 1986, 89); vom 3. Oktober 1985 VI R 168/84 (BFHE 144, 449, BStBl II 1986, 95); in BFHE 145, 386, BStBl II 1986, 221.

 

Fundstellen

BFH/NV 1990, 498

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