Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Voraussetzungen von Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte

 

Leitsatz (NV)

1. Zu den Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG, wenn ein Arbeitnehmer mehrere Wohnungen hat.

2. Eine Entfernung von 178 km zwischen Wohnung und Arbeitsstätte steht der Abziehbarkeit gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG nicht entgegen.

 

Normenkette

EStG § 9 Abs. 1 Nr. 4

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg

 

Tatbestand

Der im Jahre 1957 geborene ledige Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Zeitsoldat mit einer Verpflichtungszeit von acht Jahren. Seit seinem Dienstantritt am 1. Oktober 1977 ist er in der Kaserne in A stationiert, bewohnt aber auch noch in seinem 178 km entfernten Heimatort B in der Wohnung seiner Mutter ein Zimmer.

Im Rahmen des Lohnsteuer-Jahresausgleichs 1980 machte der Kläger die Kosten für 53 Fahrten zwischen dem Heimatort und dem Standort als Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage statt. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Die Kosten für die Fahrten von der Wohnung im Heimatort zur Arbeitsstätte könnten als Werbungskosten abgezogen werden, da in dieser Wohnung der örtliche Mittelpunkt der Lebensinteressen des Klägers gewesen sei. Zwar befinde sich bei alleinstehenden Arbeitnehmern der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen im allgemeinen am Beschäftigungsort, wenn sie dort wohnten und sich überwiegend von dort zur Arbeitsstätte begäben. Diese Vermutung sei aber widerlegt, wenn die äußeren Umstände darauf schließen ließen, daß der Arbeitnehmer seinen Lebensmittelpunkt nicht an den Beschäftigungsort verlegt habe und auch nicht verlegen wolle. Solche Umstände seien im allgemeinen bei Zeitsoldaten gegeben, die in der Kaserne wohnten und regelmäßig in ihrer Freizeit in ihrem Heimatort lebten. Im Streitfall sei es bei einer Entfernung von 178 km glaubhaft, daß der Kläger seine gesamte Freizeit zu Hause bei der Mutter und in seinem Freundeskreis verbracht habe. Der Kläger habe auch überzeugend dargelegt, daß er insbesondere durch seine Tätigkeit bei Musikgruppen eine besondere Bindung zum Heimatort habe. Im übrigen erscheine es lebensfremd, bei jungen Leuten, die in nicht allzuweiter Entfernung von ihrem Heimatort stationiert seien, den örtlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in der Kaserne anzunehmen. Solange ein Zeitsoldat am Ort der Stationierung nicht eine eigene Wohnung habe, könnten die Kosten für Fahrten zwischen Heimatort und Kaserne unabhängig von der Dauer der Dienstverpflichtung als Werbungskosten abgezogen werden.

Mit seiner Revision beantragt der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -), die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen. Er ist der Auffassung, der Heimatort sei nicht der örtliche Mittelpunkt der Lebensinteressen des Klägers gewesen. Bei einer Verpflichtung der Zeitsoldaten von über 2 Jahren sei die Heimatgemeinde nur noch dann als Lebensmittelpunkt anzusehen, wenn der Zeitsoldat dort ein Haus oder zumindest eine eigene Wohnung habe. Das Bewohnen des üblichen Jugendzimmers in der Wohnung der Eltern reiche nicht aus. Auch Heimfahrten bei jeder sich bietenden Gelegenheit wegen enger persönlicher Bindungen oder wegen aktiver Vereinsarbeit seien für sich allein nicht geeignet, in der Heimatgemeinde den Lebensmittelpunkt zu begründen. Bei den zu bewertenden Fahrten handle es sich demnach um reine Besuchsfahrten, deren Kosten zu den nach § 12 Nr. 1 EStG nicht abziehbaren Kosten der privaten Lebensführung gehörten.

Der Kläger hat sich nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Das FG hat zu Recht die Aufwendungen für die Fahrten zwischen der Kaserne und der Heimatgemeinde des Klägers als Werbungskosten i.S. des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG angesehen. Besitzt ein Arbeitnehmer mehrere Wohnungen und begibt er sich teilweise von der einen und teilweise von der anderen Wohnung aus zur Arbeitsstätte, so sind nach der Rechtsprechung des Senats - unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer verheiratet oder ledig ist - auch die Aufwendungen für Fahrten von der weiter entfernt liegenden Wohnung zur Arbeitsstätte Werbungskosten i.S. des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG, wenn diese weiter entfernt liegende Wohnung den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitnehmers bildet (z.B. Urteile vom 10. November 1978 VI R 21/76, BFHE 126, 511, BStBl II 1979, 219; VI R 240/74, BFHE 126, 552, BStBl II 1979, 224; VI R 118/74, BFHE 126, 525, BStBl II 1979, 226; VI R 127/76, BFHE 127, 6, BStBl II 1979, 335, und vom 20. Dezember 1982 VI R 64/81, BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306). Wo sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitnehmers befindet, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und ist anhand von Indizien zu ermitteln. Der Senat sieht den Mittelpunkt der Lebensinteressen bei verheirateten Steuerpflichtigen im allgemeinen dort, wo seine Familie wohnt. Ein lediger Arbeitnehmer hat nach der Entscheidung in BFHE 126, 522, BStBl II 1979, 224 den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Regel am Ort der Wohnung, von der aus er sich überwiegend zur Arbeitsstätte begibt, sofern nicht die Umstände des Einzelfalles den Schluß zulassen, daß der örtliche Mittelpunkt der Lebensinteressen und der Ort, von dem der Arbeitnehmer sich überwiegend zur Arbeitsstätte begibt, auseinanderfallen.

Wo eine Person den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen hat, wird bestimmt durch die persönlichen Beziehungen zu diesem Ort und die Art und Weise, wie die Beziehungen aufrechterhalten werden. Die persönlichen Beziehungen können ihren Ausdruck besonders in Bindungen an Personen (Eltern, Verlobte, Freundes- und Bekanntenkreis) ebenso finden wie z.B. in Vereinszugehörigkeiten oder anderen Aktivitäten; gerade hierdurch kann sich eine Person an einem Ort besonders verwurzelt fühlen (s. Urteil in BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306 unter 2b, dd, am Ende). Der Ort, zu dem ein Arbeitnehmer besondere Beziehungen hat, kann aber nur dann als Mittelpunkt der Lebensinteressen angesehen werden, wenn sich der Arbeitnehmer nachhaltig dort aufhält. Nur dann ist der Schluß gerechtfertigt, daß der Arbeitnehmer die Bindungen nicht nur durch gelegentliche Besuchsfahrten, sondern dadurch aufrechterhält, daß er weitgehend hier lebt. Daher hat der Senat im Urteil in BFHE 126, 525, BStBl II 1979, 226 die weiter entfernt liegende Wohnung einer ledigen Arbeitnehmerin deshalb nicht als Mittelpunkt der Lebensinteressen angesehen, weil sich die Arbeitnehmerin in der Wohnung nur selten (12mal im Jahr) aufgehalten hatte. Der Senat hat demgegenüber im Urteil in BFHE 126, 522, BStBl II 1979, 224 den Mittelpunkt der Lebensinteressen in einer Wohnung bejaht, weil der ledige Arbeitnehmer, von den Abenden an den Wochenarbeitstagen abgesehen, seine gesamte Freizeit am Ort dieser Wohnung verbracht hatte. Wenn in diesem Urteilsfall noch hinzukam, daß der Kläger seine weiter entfernte Wohnung in einem eigenen Einfamilienhaus hatte, so kann hieraus nicht etwa gefolgert werden, daß das Fehlen solchen Eigentums der Annahme eines Mittelpunktes der Lebensführung entgegensteht. Aus dem Urteil vom 20. Dezember 1982 VI R 123/81 (BFHE 137, 474, BStBl II 1983, 269) folgt, daß für die Annahme des Lebensmittelpunktes die Art der Wohnung nicht ausschlaggebend ist. Würde es darauf ankommen, so wären Steuerpflichtige im Alter des Klägers (23 Jahre), ohne sachlichen Grund benachteiligt, da man in diesem Alter regelmäßig noch kein Wohneigentum erwarten kann. Entgegen der Auffassung des FA kann auch die Dauer der auswärtigen Beschäftigung allein nicht ausschließen, daß sich der Lebensmittelpunkt weiterhin außerhalb des Beschäftigungsortes befindet. Im Einzelfall können allerdings die Dauer der auswärtigen Beschäftigung und auch die Art und Einrichtung der Wohnung am Beschäftigungsort Rückschlüsse darauf zulassen, ob der Steuerpflichtige nicht doch am Beschäftigungsort seinen Lebensmittelpunkt begründet hat. In einem solchen Fall kann besonders sorgfältig zu prüfen sein, ob sich die wöchentlichen Fahrten zum Heimatort nicht lediglich als Besuchsfahrten zum früheren Lebensmittelpunkt darstellen.

Die Vorinstanz hat aus den persönlichen Bindungen zum Heimatort und der Anzahl der tatsächlich durchgeführten Heimfahrten des Klägers revisionsrechtlich unangreifbar abgeleitet, daß das Zimmer des Klägers in der Wohnung seiner Mutter als örtlicher Mittelpunkt der Lebensinteressen des Klägers anzusehen ist.

Dem Abzug der Fahrtkosten steht auch nicht der Umstand entgegen, daß sich die Entfernung zwischen dem Beschäftigungsort und dem Lebensmittelpunkt des Klägers auf 178 km beläuft. Der Senat hat zwar durch Urteil in BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306 und zuvor schon durch Urteil vom 9. März 1979 VI R 11/78 (BFHE 128, 189, BStBl II 1979, 648) entschieden, daß die Kosten für Fahrten von dem weiter entfernt liegenden Mittelpunkt der Lebensinteressen zum Beschäftigungsort nur dann nach § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG berücksichtigt werden können, wenn die Entfernung zwischen den beiden Orten nicht so groß ist, daß ein Arbeitnehmer es arbeitstäglich auf Dauer nicht auf sich nehmen würde, am selben Tag zur Arbeitsstätte hin und zurück zu fahren, um seiner Arbeit am Beschäftigungsort nachgehen zu können. In den vorbezeichneten Fällen waren Entfernungen einmal von rd. 300 km und dann von mehreren hundert Kilometern in ein ausländisches Heimatland zu beurteilen. Auch im Urteil vom 10. November 1978 VI R 112/75 (BFHE 126, 518, BStBl II 1979, 222) belief sich die Entfernung auf rd. 500 km. Mit diesen Entfernungen ist die Entfernung im Streitfall (178 km) nicht zu vergleichen. Bei der vorliegend zu beurteilenden Entfernung (rund 200 km) läßt sich nicht sagen, daß ein Arbeitnehmer es auf Dauer nicht auf sich nehmen würde, arbeitstäglich mit dem PKW zur Arbeitsstätte hin und zurück zu fahren, um seiner Arbeit am Beschäftigungsort nachgehen zu können. Bei einer bei dieser Entfernung sich ergebenden rd. zwölf- oder dreizehnstündigen Abwesenheit von dem Mittelpunkt der Lebensführung hält es der Senat noch für denkbar, daß ein Steuerpflichtiger auf Dauer auch arbeitstägliche Fahrten auf sich nehmen würde. So hat der Senat auch im Urteil in BFHE 126, 522, BStBl II 1979, 224 und im Urteil vom 2. Februar 1979 VI R 108/75 (BFHE 127, 37, BStBl II 1979, 338) Entfernungen von 188 km bzw. 144 km, ohne hierzu weitere Ausführungen zu machen, als nicht dem Abzug der Fahrtkosten entgegenstehend beurteilt. Da der Senat im vorliegenden Streitfall auch auf der Grundlage der Entscheidung in BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306 den Abzug der Fahrtkosten als Werbungskosten bejaht, hat er keine Veranlassung, auf die gegen diese Entscheidung in der Literatur und der Rechtsprechung der FG erhobene Kritik Stellung zu nehmen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414093

BFH/NV 1986, 89

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