Entscheidungsstichwort (Thema)
Bekanntgabe eines ESt-Zusammenveranlagungsbescheids an Ehegatten bei fehlender Empfangsvollmacht
Leitsatz (NV)
Fehlt mangels Abgabe von Steuererklärungen eine Bevollmächtigung zur gegenseitigen Empfangnahme von Steuererklärungen, so ist der zusammengefaßte Einkommensteuerbescheid in getrennten Ausfertigungen den Ehegatten bekanntzugeben.
Normenkette
AO 1977 § 155 Abs. 3 i.d.F. vor dem StBerG 1986
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist verheiratet. Da die Eheleute für die Streitjahre 1977 und 1978 keine Einkommensteuererklärungen abgaben, führte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Veranlagung aufgrund von geschätzten Besteuerungsgrundlagen durch. Dabei veranlagte das FA die Eheleute gemeinsam zur Einkommensteuer (§ 26 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Die Bescheide sind an ,,Herrn und Frau W. X, . . . straße, in B . . ." adressiert und wurden am 27. März 1980 (für das Jahr 1977) und am 9. Mai 1980 (für das Jahr 1978) zur Post gegeben. Es wurde jeweils nur ein Bescheid versandt.
Am 9. September 1980 gingen beim FA die Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre ein. Mit Schreiben vom 26. September 1980 legte der Kläger Einspruch ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Das FA wies die Einsprüche wegen Versäumung der Einspruchsfristen als unzulässig zurück. Mit der Klage begehrte der Kläger die Feststellung, daß die Bescheide mangels ordnungsgemäßer Bekanntgabe unwirksam seien. Er beanstandete, daß ihm und seiner Ehefrau die Bescheide jeweils nur in einer Ausfertigung zugegangen seien.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Seine Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1982, 167 veröffentlicht.
Dagegen wendet sich der Kläger mit der Revision.
Er beantragt, das FG-Urteil vom 24. September 1981, die Einspruchsentscheidung vom 20. Oktober 1980, den Einkommensteuerbescheid für 1977 vom 27. März 1980 und den Einkommensteuerbescheid für 1978 vom 9. Mai 1980 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
1. Der Kläger hat vor dem FG sein Klagebegehren als Feststellungsklage formuliert. Das war zutreffend, weil die Feststellungsklage die zutreffende Klageart ist, wenn es um die Frage geht, ob ein Steuerbescheid mangels ordnungsgemäßer Bekanntgabe nicht wirksam geworden ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. Mai 1976 VIII R 66/74, BFHE 119, 36, BStBl II 1976, 606). Im Revisionsverfahren hat der Kläger nunmehr beantragt, die streitigen Einkommensteuerbescheide vom 27. März 1980 und 9. Mai 1980 aufzuheben. Der Senat sieht darin gleichwohl keine Anfechtungsklage und damit keine in der Revision nach § 123 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unzulässige Klageänderung. Denn das Begehren des Klägers, wie es sich aus seiner Revisionsbegründung ergibt, hat weiterhin ausschließlich zum Ziel, die streitigen Einkommensteuerbescheide mangels ordnungsgemäßer Bekanntgabe für unwirksam zu erklären. Das Begehren ist also weiterhin auf ein Feststellungsbegehren gerichtet, auch wenn der Antrag nach seinem Wortlaut die Aufhebung der Einkommensteuerbescheide 1977 und 1978 zum Inhalt hat. Im übrigen ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß zur Beseitigung des Rechtsscheins ein nichtiger oder unwirksamer Verwaltungsakt noch - zusätzlich - aufgehoben werden kann.
2. Im Geltungsbereich der Reichsabgabenordnung (AO) war nach der ständigen Rechtsprechung des BFH für die Zustellung eines einheitlichen Steuerbescheids an Ehegatten, die sich nicht gegenseitig zur Empfangnahme von Steuerbescheiden bevollmächtigt hatten, erforderlich, daß jedem der beiden Ehegatten eine Ausfertigung des Steuerbescheids übersandt wurde (vgl. Hein, Betriebs-Berater - BB - 1979, 319). Diese Rechtsprechung wurde im wesentlichen damit begründet, daß Steuerbescheide nach der AO zuzustellen waren (§ 211 Abs. 3 AO) und nach § 2 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) die Zustellung in der Übergabe eines Schriftstücks besteht (vgl. dazu insbesondere BFH-Beschluß vom 22. Oktober 1975 I B 38/75, BFHE 117, 205, BStBl II 1976, 136). Da der einheitliche Bescheid nach § 210 Abs. 2 AO aus so vielen Bescheiden besteht, wie Adressaten vorhanden sind, mußte jedem dieser Adressaten eine Ausfertigung zugestellt werden. Es wurde allerdings angenommen, daß sich die Ehegatten gegenseitig zur Empfangnahme bevollmächtigt haben, wenn sie eine gemeinsame, von beiden unterschriebene Steuererklärung abgegeben hatten (BFH-Urteil vom 16. August 1978 I R 26/78, BFHE 126, 5, BStBl II 1979, 58). Obwohl die Abgabenordnung (AO 1977) vom Zustellungsprinzip zum Bekanntgabeprinzip übergegangen ist, hat der VIII. Senat des BFH in seinem Urteil vom 26. März 1985 VIII R 225/83 (BFHE 143, 491, BStBl II 1985, 603) an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten. Der VI. Senat des BFH hat sich zwischenzeitlich in seinem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 25. Oktober 1985 VI R 279/80 dieser Auffassung angeschlossen. Danach wird ein nach dem 31. Dezember 1976 erlassener Steuerbescheid dadurch wirksam, daß er demjenigen, für den er bestimmt ist, bekanntgegeben wird (§ 122 Abs. 1, § 124 Abs. 1, § 155 Abs. 1 AO 1977). Dasselbe gilt für zusammengefaßte Bescheide nach § 155 Abs. 2 AO 1977 (seit dem 29. August 1980 § 155 Abs. 3 AO 1977), wie sie im Streitfall zulässigerweise ergangen sind (siehe hierzu das BFH-Urteil vom 24. Mai 1985 VI R 204/82, BFHE 144, 121, BStBl II 1985, 583). Auch bei dem zusammengefaßten Bescheid handelt es sich um mehrere inhaltsgleiche Bescheide, die jedem Adressaten bekanntzugeben sind, um wirksam zu werden. Schließlich folgt aus § 157 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, wonach Steuerbescheide schriftlich zu erteilen sind, daß die Bekanntgabe die Verschaffung des Alleinbesitzes an der Urkunde erfordert. Der erkennende Senat schließt sich der Auffassung des VIII. und des VI. Senats an.
Nach § 155 Abs. 5 AO 1977 i.d.F. des Steuerbereinigungsgesetzes 1986 (BGBl I 1985, 2436, BStBl I 1985, 735) reicht es für die Bekanntgabe eines zusammengefaßten schriftlichen Steuerbescheids an Ehegatten in aller Regel aus, wenn ihnen nur eine Ausfertigung unter ihrer gemeinsamen Anschrift übermittelt wird. Nach dieser Vorschrift kommt es also auf eine gegenseitige Bevollmächtigung der Ehegatten nicht mehr an. Diese Neuregelung gilt jedoch erst mit Wirkung vom 1. Januar 1986 (Art. 25 Abs. 2 des Steuerbereinigungsgesetzes 1986). Sie ist also auf den vorliegenden Fall noch nicht anwendbar.
3. Der Senat folgt der Rechtsansicht des FG nicht, daß sich der Kläger und seine Ehefrau gegenseitig zur Empfangnahme von Zusammenveranlagungsbescheiden bevollmächtigt hätten. Die Eheleute haben für die Streitjahre Einkommensteuererklärungen nicht abgegeben. Das FG folgert die stillschweigende Bevollmächtigung aus Steuererklärungen früherer Jahre. Der Senat hält dies nicht für zulässig. Er ist der Auffassung, daß für die Annahme einer Bevollmächtigung aus Gründen der Rechtsklarheit nur auf das jeweilige Streitjahr abgestellt werden kann.
4. Da die Vorentscheidung von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war sie aufzuheben. Die Sache ist spruchreif (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Auf die Klage ist die Einspruchsentscheidung aufzuheben und festzustellen, daß die Einkommensteuerbescheide vom 27. März 1980 und 9. Mai 1980 mangels ordnungsgemäßer Bekanntgabe nicht wirksam geworden sind. Das gilt beiden Ehegatten gegenüber, weil nicht mit Sicherheit festzustellen ist, wem die Bescheide zugegangen sind. Um den durch die unwirksamen Bescheide geschaffenen Rechtsschein zu beseitigen, wird formell die Aufhebung der Steuerbescheide ausgesprochen (Urteil in BFHE 143, 491, BStBl II 1985, 603).
Fundstellen
Haufe-Index 414345 |
BFH/NV 1986, 379 |