Entscheidungsstichwort (Thema)

Begründung des Entschließungsermessens

 

Leitsatz (NV)

1. Das FA braucht im Regelfall, wenn außergewöhnliche Umstände nicht vorgetragen und nicht ersichtlich sind, seine Entscheidung, den Haftenden in Anspruch zu nehmen (Entschließungsermessen), jedenfalls dann nicht besonders zu begründen, wenn eine anderweitige Realisierung des Steueranspruchs nicht möglich ist.

2. Zur Vorprägung der Ermessensentscheidung durch den Grad des Verschuldens des Haftungsschuldners.

3. Zur Berücksichtigung des Mitverschuldens des FA.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 34, 69, 191

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war alleiniger Geschäftsführer einer GmbH. Die GmbH stellte wegen Illiquidität im November 1985 ihre Zahlungen ein. Ein am 10. Dezember 1985 gestellter Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens wurde vom zuständigen Amtsgericht mangels Masse zurückgewiesen. Die GmbH wurde von Amts wegen gelöscht. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) nahm den Kläger wegen rückständiger Lohnsteuer nebst Kirchensteuer und Säumniszuschlägen der GmbH für die Monate August, September und November 1985 als Haftungsschuldner gemäß §§69, 34 der Abgabenordnung (AO 1977) in Anspruch (Haftungsschuld lt. Einspruchsentscheidung 8 542,43 DM).

Die Klage des Klägers führte zur Aufhebung des Haftungsbescheids und der Einspruchsentscheidung. Das Finanzgericht (FG) begründete seine Entscheidung im wesentlichen damit, die angefochtenen Verwaltungsakte seien rechtswidrig, denn unabhängig von der Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des §69 AO 1977 fehle es bei der haftungsrechtlichen Inanspruchnahme des Klägers an der sachgerechten Ausübung des Entschließungsermessens durch das FA. Wegen der Begründung des FG im einzelnen wird auf den Urteilsabdruck in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1997, 194 Bezug genommen.

Mit der Revision macht das FA geltend, das FG habe es in dem angefochtenen Urteil nicht dahingestellt lassen dürfen, ob und ggf. in welchem Umfang im Streitfall der gesetzliche Haftungstatbestand erfüllt sei. Es wider spreche der Gesetzessystematik, wenn das FG lediglich Bedenken gegen die (aus seiner Sicht) fehlenden Sachverhaltsfeststellungen und die rechtliche Wertung des FA anein anderreihe, ohne eigene Feststellungen zu treffen, geschweige denn zu einer eigenen Rechtsentscheidung hinsichtlich des Haftungstatbestands des §69 AO 1977 zu gelangen. Denn die Rechtsentscheidung über die Verwirklichung des Haftungstatbestands sei vorgreiflich für die nach §191 Abs. 1 AO 1977 zu treffende Ermessensentscheidung. Entgegen den Bedenken des FG sei im Streitfall der Haftungstatbestand erfüllt, denn die Nichtabführung einbehaltener Lohnsteuer durch den GmbH-Geschäftsführer stelle stets ein schweres Verschulden in Form zumindest grob fahrlässiger Pflichtverletzung dar. Schon dadurch sei die Ermessensentscheidung im Sinne einer Inanspruchnahme des Haftungsschuldners vorgeprägt. Im übrigen stünden die Ausführungen des FG zum (fehlenden) Entschließungsermessen in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), wonach bei Nichtabführung einbehaltener Lohnsteuer im Regelfall eingehende Darlegungen zum Entschließungsermessen entbehrlich seien, sofern nicht ganz außergewöhnliche Umstände vorlägen und eine anderweitige Realisierung des Steueranspruchs -- wie hier -- nicht möglich sei. Dies gelte insbesondere dann, wenn das FA im angefochtenen Haftungsbescheid oder -- wie hier -- in der Einspruchsentscheidung zu erkennen gebe, daß es sich bewußt war, mit der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners sein Ermessen auszuüben.

Auch die sonstigen Bedenken des FG gegen die Verwirklichung des Haftungstatbestands seien nicht gerechtfertigt:

Trotz des Konkursantrags vom 10. Dezember 1985 habe der Kläger die einbehaltene Lohnsteuer für November 1985 noch an das FA abführen müssen. Die geringe Höhe der Haftungsschuld und die zeitliche Nähe zum Konkursverfahren schließe die Haftung des Klägers nicht aus. Auf eine Verrechnung der Lohnsteuerrückstände mit den Umsatzsteuerguthaben der GmbH aus den Umsatzsteuervoranmeldungen Oktober bis Dezember 1985 habe der Kläger nicht vertrauen dürfen, weil das FG weder einen ausdrücklichen Verrechnungsantrag noch eine generelle Verrechnungsabrede festgestellt habe. Im übrigen seien die Umsatzsteuerguthaben erst nach den Lohnsteuerbeträgen fällig geworden. Sie seien zwar später zunächst auf die rückständige Lohnsteuer umgebucht und überschießende Beträge an die GmbH ausgezahlt worden. Die Umbuchung habe aber nicht zur Tilgung der Lohnsteuerrückstände geführt, weil sie rückgängig gemacht worden sei, nachdem sich aufgrund der Umsatzsteuer-Jahresveranlagung das Nichtbestehen der Umsatzsteuerguthaben herausgestellt habe. Ein mitwirkendes Verschulden des FA, das bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sei, sei nicht ersichtlich. Im Hinblick auf das schwere Verschulden des Klägers bei der Nichtabführung der einbehaltenen Lohn steuer sei auch seine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner unter Ermessensgesichtspunkten selbst dann gerechtfertigt, wenn von einem mitwirkenden Verschulden des FA auszugehen wäre.

Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Der Kläger hat keinen Revisionsantrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Das FA hat den Kläger als ehemaligen Geschäftsführer der GmbH, die inzwischen wegen Vermögenslosigkeit von Amts wegen im Handelsregister gelöscht worden ist, wegen Nichtabführung der Lohnsteuer und Kirchensteuer, die von den Arbeitslöhnen der Arbeitnehmer der GmbH für die Monate August, September und November 1985 einbehalten worden waren, nach §69 i. V. m. §34 AO 1977 als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. Urteile vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 4. Oktober 1988 VII R 53/85, BFH/NV 1989, 274, 275). Das FA hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine vom Gericht in vollem Umfang überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach §191 Abs. 1 AO 1977 zu treffende Ermessensentscheidung des FA an, ob und wen es als Haftenden in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des §102 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar.

Das FG hat bei der Überprüfung des angefochtenen Haftungsbescheids die vom FA getroffene Rechtsentscheidung, daß der Kläger den Haftungstatbestand des §69 i. V. m. §34 AO 1977 erfüllt habe, in mehrfacher Hinsicht in Zweifel gezogen. Es hat aber die Entscheidung darüber, ob im Streitfall die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschriften erfüllt sind -- bis auf die Haftung des Klägers für die Lohnsteuerrückstände für November 1985, hinsichtlich derer das FG eine grob fahrlässige Pflichtverletzung i. S. des §69 AO 1977 für "nicht dargetan" hält --, letztlich offenge lassen. Die Vorinstanz hat den Haftungsbescheid i. d. F. der Einspruchsentscheidung insgesamt wegen Ermessensfehlers des FA mit der Begründung aufgehoben, daß dieses sein Entschließungsermessen, den Kläger in Anspruch zu nehmen, nicht sachgerecht ausgeübt habe. Dabei hat das FG die Anforderungen, die nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners an die Darlegung des Entschließungsermessens der Finanzbehörde zu stellen sind, verkannt.

2. a) Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen lassen (§102 FGO), muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden (vgl. §121 Abs. 1, §126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei muß die Behörde insbesondere zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt -- Auswahlermessen -- (vgl. Urteil des Senats vom 29. September 1987 VII R 54/84, BFHE 151, 111, BStBl II 1988, 176).

Der angefochtene Haftungsbescheid enthält -- wie das FG einräumt -- mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Einziehung der rückständigen Steuerabzugsbeträge durch Vollstreckungsmaßnahmen gegenüber der GmbH (Konkurseröffnung mangels Masse abgelehnt, wegen Vermögenslosigkeit gelöscht) eine ausreichende Begründung des Auswahlermessens des FA. Neben dem Kläger als alleinigen Geschäftsführer der GmbH kamen somit andere Personen für eine Inanspruchnahme als Steuer- oder Haftungsschuldner nicht in Betracht. Eine Heranziehung der Arbeitnehmer als Steuerschuldner für die einbehaltene, aber nicht an das FA abgeführte Lohnsteuer war rechtlich nicht möglich, weil die Voraussetzungen für die auf Ausnahmefälle beschränkte Inanspruchnahme der Arbeitnehmer im Rahmen der Gesamtschuldnerschaft (neben dem Arbeitgeber) nach §42 d Abs. 3 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes offensichtlich nicht vorlagen (vgl. insoweit die Senatsurteile in BFHE 151, 111, BStBl II 1988, 176, 178, und vom 29. Mai 1990 VII R 81/89, BFH/NV 1991, 283).

Die vorstehend dargestellte Sachlage, wonach eine Realisierung der rückständigen Lohnsteuer und Kirchensteuer und der damit zusammenhängenden steuerrechtlichen Nebenleistungen (Säumniszuschläge) allein beim Kläger möglich war, hat auch Auswirkungen auf die Begründungsanforderungen, die an das Entschließungsermessen, nämlich die Entscheidung des FA, seinen Haftungsanspruch aus §69 AO 1977 gegen den Kläger geltend zu machen, gestellt werden. Wie der Senat in seinen Urteilen in BFHE 151, 111, BStBl II 1988, 176, 178, in BFH/NV 1991, 283, 285 und vom 13. November 1990 VII R 96/88 (BFH/NV 1991, 641, 643) ausgeführt hat, könnte im Hinblick auf die dem Steuergläubiger im öffentlichen Interesse obliegende Aufgabe, die geschuldeten Abgaben nach Möglichkeit zu erheben, der Erlaß eines Haftungsbescheids bei Uneinbringlichkeit der Erstschuld nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen ermessensfehlerhaft sein. Das FA braucht deshalb im Regelfall, wenn solche außergewöhnlichen Umstände nicht vorgetragen und nicht ersichtlich sind, seine Entschließung, den Haftenden in Anspruch zu nehmen, jedenfalls dann nicht besonders zu begründen, wenn eine anderweitige Realisierung des Steueranspruchs -- beim Steuerschuldner oder bei einem anderen Haftungsschuldner -- nicht möglich ist.

Da im Streitfall für das FA allein die In anspruchnahme des Klägers in Betracht kam und besondere Umstände, die es hätten veranlassen können, von der Geltendmachung des Haftungsanspruchs abzusehen, nicht ersichtlich sind, konnte somit auf eine nähere Darlegung des Entschließungsermessens im Haftungsbescheid und in der Einspruchsentscheidung verzichtet werden. Wie aus den vorstehend zitierten Entscheidungen ersichtlich ist, gilt dies jedenfalls dann, wenn erkennbar ist, daß sich das FA des Umstands bewußt war, daß es mit der Heranziehung des Haftungsschuldners eine Ermessensentscheidung gemäß §191 Abs. 1 AO 1977 zu treffen hatte. Auch diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt, denn das FA ist -- wie auch die Vorentscheidung festgestellt hat -- in der Einspruchsentscheidung, wenn auch ohne ausführliche Begründung, auf die Ausübung des Entschließungsermessens eingegangen.

b) Die Vorentscheidung hat zwar unter Zitierung des Senatsurteils in BFH/NV 1991, 283 ausgeführt, es könne "in Einzelfällen aufgrund besonderer Umstände" dann auf eine ausdrückliche Darlegung der Ermessenserwägungen verzichtet werden, wenn eine anderweitige Realisierung des Steueranspruchs nicht möglich ist und keine besonderen Umstände gegeben sind. Derartige Ermessenserwägungen seien im vorliegenden Fall jedoch nicht erkennbar. Mit den Ausführungen, daß nur in Einzelfällen und nur aufgrund besonderer Umstände hinsichtlich des Entschließungsermessens auf ausführliche Ermessenserwägungen verzichtet werden könne, weicht das FG von der oben dargestellten Senatsrechtsprechung ab, nach der die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners, wenn eine anderweitige Realisierung des Steueranspruchs nicht möglich ist, nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen ermessensfehlerhaft ist und deshalb im Regelfall das Entschließungsermessen nicht begründet zu werden braucht. Die Rechtsauffassung des FG würde das vom erkennenden Senat aufgestellte Regel-/Ausnahme-Prinzip für die Begründung des Entschließungsermessens in sein Gegenteil verkehren. Der Senat hält aber an seiner Rechtsprechung fest, nach der es im Streitfall -- wie oben ausgeführt -- entgegen der Auffassung des FG einer besonderen Begründung des Entschließungsermessens für die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner nicht bedurfte.

c) Da die Vorentscheidung hinsichtlich der Anforderungen an die Begründung des Entschließungsermessens mit der Rechtsauffassung des erkennenden Senats nicht in Einklang steht, war sie aufzuheben, ohne daß es einer abschließenden Erörterung der Umstände bedarf, die das FG als für die Ermessensentscheidung bedeutsam angesehen, aber nicht endgültig festgestellt und beurteilt hat (insbesondere: Vorprägung des Ermessens durch den Verschuldensgrad des Haftungsschuldners und Mitverschulden des FA).

Die Sache ist nicht spruchreif und deshalb an das FG zurückzuverweisen (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO), weil die Vorinstanz -- wie oben (1.) ausgeführt -- die Entscheidung darüber, ob der Kläger die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschriften (§§34, 69 AO 1977) erfüllt hat, offengelassen hat. Entgegen der Auffassung der Revision reichen die in mehreren Punkten nicht eindeutigen tatsächlichen Feststellungen des FG für eine rechtliche Beurteilung des Haftungstatbestands durch die Revisionsinstanz nicht aus.

3. Für die nachzuholenden Feststellungen und die erneute Verhandlung und Entscheidung durch das FG gibt der Senat folgende Hinweise:

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats stellt die Nichtabführung der einbehaltenen und angemeldeten Lohnsteuer zu den gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkten regelmäßig eine -- wenn nicht vorsätzliche -- zumindest grob fahrlässige Pflichtverletzung des GmbH-Geschäftsführers i. S. der §§34, 69 AO 1977 dar (vgl. Urteil in BFH/NV 1991, 283, 284). Reichen die zur Verfügung stehenden Mittel zur Befriedigung aller Gläubiger und zur Zahlung der vollen Löhne, einschließlich des Steueranteils, nicht aus, so darf der Geschäftsführer Löhne nur gekürzt als Vorschuß oder als Teilbetrag auszahlen und muß aus den dann übrig bleibenden Mitteln die entsprechende Lohnsteuer an das FA abführen (so die ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. Urteil vom 26. Juli 1988 VII R 83/87, BFHE 153, 512, BStBl II 1988, 859, m. w. N.).

Nach diesen Grundsätzen scheidet -- ent gegen der Auffassung des FG -- eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Klägers hinsichtlich der Nichtabführung der Lohnsteuer für November 1985 (fällig am 10. Dezember 1985) nicht bereits deshalb aus, weil am 10. Dezember 1985 der Konkursantrag für die GmbH gestellt worden ist. Wie das FG zutreffend ausgeführt hat, bewirkt die Antragstellung auf Konkurseröffnung noch kein Verfügungsverbot im rechtlichen Sinne. Ob es -- so das FG -- üblichen Gepflogenheiten entspricht, ab diesem Zeitpunkt keine Zahlungen mehr auszuführen und die Abwicklung im Konkursverfahren abzuwarten, ist für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten des Geschäftsführers (§34 AO 1977) unerheblich und schließt bei deren Nichterfüllung ein Verschulden nicht aus. Sollten dem Geschäftsführer zum Fälligkeitszeitpunkt keine Zahlungsmittel mehr zur Verfügung gestanden haben, was im Hinblick auf den zeitgleichen Konkursantrag naheliegend erscheint, so kann sich die Erfüllung des Haftungstatbestands daraus ergeben, daß er trotz seiner Kenntnis von den Zahlungsschwierigkeiten der GmbH, auf die die Steuerrückstände für die vorangehenden Monate August und September 1985 hindeuten, die Löhne für November 1985 nicht zum Zwecke einer anteiligen Steuerzahlung entsprechend gekürzt an die Arbeitnehmer der GmbH ausgezahlt hat.

b) Das Vertrauen des Klägers auf eine Verrechnung der Lohnsteuerrückstände mit Umsatzsteuerguthaben der GmbH könnte eine schuldhafte Pflichtverletzung und damit den Haftungstatbestand gemäß §§34, 69 AO 1977 allenfalls dann ausschließen, wenn tatsächlich Steuerguthaben bestanden haben, ein entsprechender Verrechnungsantrag gestellt wurde und das FA in der Vergangenheit entsprechende Verrechnungen auch vorgenommen hat (vgl. Senatsurteile vom 29. Juli 1986 VII R 132/83, BFH/NV 1987, 74, und vom 2. August 1988 VII R 60/85, BFH/NV 1989, 150). Daß Feststellungen dazu vom FA nicht getroffen worden sind, durfte das FG hier nicht zugunsten des Klägers werten. Das FG wird vielmehr im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung (§76 Abs. 1 FGO) die notwendigen Feststellungen selbst treffen müssen.

Im übrigen wird das FG im Rahmen der notwendigen Sachverhaltsfeststellungen und seiner Rechtsentscheidung über das Vorliegen des Haftungstatbestands insoweit auch das Revisionsvorbringen des FA zu berücksichtigen haben,

die Umsatzsteuerguthaben -- hier aus den Umsatzsteuervoranmeldungen Oktober bis Dezember 1985 -- seien erst nach den rückständigen Steuerabzugsbeträgen für die Monate August, September und November 1985 fällig geworden, so daß eine fristgerechte Verrechnung und Tilgung der Steuerschulden von vornherein nicht möglich gewesen sei, und

die später erfolgte Umbuchung der Umsatzsteuerguthaben auf die rückständige Lohnsteuer sowie die Auszahlung des überschießenden Betrags an die GmbH schließe die Erfüllung des Haftungstatbestands durch den Kläger nicht aus, weil sie später wieder rückgängig gemacht worden sei, nachdem sich aufgrund der Umsatzsteuer-Jahresveranlagung 1985 das Nichtbestehen der Umsatzsteuerguthaben herausgestellt habe (vgl. hierzu das Senatsurteil vom 5. August 1986 VII R 167/82, BFHE 147, 398, BStBl II 1987, 8, wonach die Verrechnung unter der auflösenden Bedingung steht, daß das verrechnete Guthaben aus der Umsatzsteuervoranmeldung durch die Festsetzung der Jahressteuerschuld bestätigt wird).

c) Soweit es trotz der eingeschränkten Anforderungen an die Begründung des Entschließungsermessens (s. oben 2.) noch darauf ankommen sollte, ob -- wie die Revision meint -- die Ermessensentscheidung schon durch den Grad des Verschuldens des Haftungsschuldners vorgeprägt ist, weist der Senat auf folgendes hin:

Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Ermessensentscheidung des FA bei der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch die getroffene Rechtsentscheidung gemäß dem BFH-Urteil in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508 in der Weise vorgeprägt ist, daß auf eine Begründung der Ermessensentscheidung im Haftungsbescheid und in der Einspruchsentscheidung verzichtet werden kann, hat der Senat in seinen Urteilen vom 8. November 1988 VII R 141/85 (BFHE 155, 243, BStBl II 1989, 219) und in BFH/NV 1991, 641, 643 entschieden, daß unter der Geltung der AO 1977 (§69) eine Vorprägung der Ermessensentscheidung wegen Vorliegens grober Fahrlässigkeit nicht mehr angenommen werden kann. Ob eine solche Vorprägung bei Vorliegen einer vorsätzlichen Pflichtverletzung des Haftungsschuldners angenommen werden kann, hat der Senat in diesen Entscheidungen offengelassen.

Von einer Vorprägung der Ermessensentscheidung durch die Tatbestandsverwirk lichung in erschwerter Verschuldensform (hier allenfalls Vorsatz) und einer daran anknüpfenden stillschweigenden sachgerechten Ermessensausübung durch das FA kann aber in Anwendung des Urteils in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508 nur dann ausgegangen werden, wenn das FA selbst bei seiner Entscheidung über den Haftungstatbestand von diesem schweren Verschulden des Haftungsschuldners ausgegangen ist (Senat in BFH/NV 1991, 641, 643, m. w. N.). Im Streitfall hat aber das FA in dem angefochtenen Haftungsbescheid und in der Einspruchsentscheidung nur eine (zumindest) grob fahrlässige Pflichtverletzung des Klägers angenommen. Da das FA seiner Rechtsentscheidung nicht eindeutig den schwereren der beiden in §69 AO 1977 genannten Verschuldensvorwürfe zugrunde gelegt hat, hätte es einer Darlegung der Ermessenserwägung der Finanzverwaltung bedurft, wenn im Streitfall nicht von dem Regelfall einer sachgerechten Ausübung des Entschließungsermessens deshalb ausgegangen werden könnte, weil eine anderweitige Realisierbarkeit des Steueranspruchs als bei dem in Anspruch genommenen Haftungsschuldner nicht möglich ist.

d) Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß ein etwaiges Mitverschulden des FA -- hier: die Auszahlung von Umsatzsteuerguthaben nach Zahlungseinstellung und Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens an die GmbH, keine Rückforderung der rechtsgrundlos erstatteten Beträge -- (allen falls) im Rahmen der Ermessensentscheidung nach §191 Abs. 1 AO 1977 zu berücksichtigen wäre (Senatsbeschluß vom 21. Januar 1986 VII S 30/85, BFH/NV 1986, 518, 520, und Urteil in BFH/NV 1989, 150, 152). Nach der Rechtsprechung des BFH könnte aber selbst bei Annahme eines mitwirkenden Verschuldens des FA die persönliche Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nur dann einen Ermessensfehlgebrauch darstellen, wenn dessen Verschulden gering wäre (vgl. Urteil vom 26. Januar 1961 IV 140/60, Steuerrechtsprechung in Kar teiform, Reichsabgabenordnung, §109, Rechtsspruch 14; Senat in BFH/NV 1986, 518, 520, und Beschluß vom 28. August 1990 VII S 9/90, BFH/NV 1991, 290). Im Streitfall ist das FA aber -- wie ausgeführt in Übereinstimmung mit der ständigen Senatsrechtsprechung zu vergleichbaren Sachverhaltsgestaltungen -- davon ausgegangen, daß den Kläger ein schweres Verschulden an der Steuerverkürzung trifft, da er die einbehaltenen Lohnsteuerabzugsbeträge innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen zumindest grob fahrlässig nicht an das FA abgeführt hat.

Im übrigen wäre, wenn das FG ein mitwirkendes Verschulden des FA an dem eingetretenen Haftungsschaden dennoch für entscheidungserheblich halten sollte, hierzu auch die Sachverhaltsdarstellung des FA hinsichtlich der Gründe für die Auszahlung von Umsatzsteuererstattungsbeträgen an die GmbH zu würdigen, auf die die Vorentscheidung nicht eingegangen ist.

 

Fundstellen

BFH/NV 1998, 4

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