Entscheidungsstichwort (Thema)

Tatsachenvortrag im Revisionsverfahren

 

Leitsatz (NV)

Ein Vortrag neuer Tatsachen des Revisionsklägers hinsichtlich der Wirksamkeit der Zustellung der Einspruchsentscheidung kann, da er sich auf die Frage der Einhaltung der Klagefrist bezieht, auch in der Revisionsinstanz berücksichtigt und frei gewürdigt werden.

 

Normenkette

FGO § 118 Abs. 2, § 96 Abs. 1 S. 1; ZPO § 181 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Revisionskläger führt als Konkursverwalter über das Vermögen des Gemeinschuldners, des Klägers im finanzgericht lichen Verfahren, den durch die Konkurseröffnung unterbrochenen Rechtsstreit wegen eines gegen den Gemeinschuldner ergangenen Umsatzsteuer-Haftungsbescheids mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) fort (§ 155 der Finanzgerichtsordnung -- FGO -- i. V. m. §§ 240, 250 der Zivilprozeßordnung -- ZPO --, § 6 Abs. 2 der Konkursordnung). Die Klage wurde vom FG wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig abgewiesen. Nach der Entscheidung des FG ist die angefochtene Einspruchsentscheidung am 28. Oktober 1989 wirksam zugestellt worden, weil die Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde in der gemeinsamen Wohnung der Eheleute an die Ehefrau des abwesenden Gemeinschuldners erfolgt ist (§ 3 Abs. 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes -- VwZG -- i. V. m. § 181 Abs. 1 ZPO). Die Klageschrift ist erst am 29. November 1989 und damit -- bei Wirksamkeit der Zustellung -- nach Ablauf der Klagefrist von einem Monat (§ 47 Abs. 1 FGO) beim FG eingegangen.

Das FG sah keinen Anlaß zur Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich der ihm im Klageverfahren vorgelegten schriftlichen Erklärung des Gemeinschuldners und seiner Ehefrau, sie hätten in der Zeit von August 1989 bis Dezember 1989 in ihrer Wohnung getrennt voneinander gelebt. Es vertrat die Auffassung, die Ehefrau des Gemeinschuldners sei auch im Falle des Getrenntlebens der Eheleute innerhalb der gemeinsamen Wohnung eine zur Familie gehörende erwachsene Hausgenossin i. S. des § 181 Abs. 1 ZPO, so daß die Ersatzzustellung der Einspruchsentscheidung an sie wirksam sei. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 Abs. 1 FGO) komme nicht in Betracht, weil dem Gemeinschuldner die Einspruchsentscheidung am 30. Oktober 1989 von seiner Ehefrau übergeben worden sei und er danach genügend Zeit gehabt habe, die Klagefrist einzuhalten.

Mit der Revision wendet sich der Revisionskläger gegen die Rechtsauffassung des FG, auch im Falle des Getrenntlebens von Ehegatten innerhalb der selben Wohnung könne eine Ersatzzustellung wirksam an den Ehegatten erfolgen. Um nicht wissentlich eine falsche Sachdarstellung zu geben, sehe er sich aber veranlaßt, -- auch wenn dies dem Gemeinschuldner im Finanzrechtsstreit zum Nachteil gereiche --, auf folgendes hinzuweisen:

Die Ehefrau des Gemeinschuldners habe gegenüber dem von ihm mit der Aufklärung des Sachverhalts beauftragten Rechtsanwalt A eingestanden, daß sie von ihrem Ehemann niemals getrennt gelebt habe. Die Unterzeichnung einer anders lautenden Erklärung sei ebenso wie der nachträgliche Vermerk des angeblichen Zustellungsdatums vom 30. Oktober 1989 auf der Einspruchsentscheidung von dem Geschäftsführer der früheren Prozeßbevollmächtigten des Gemeinschuldners, der X-GmbH, und dem mit dieser verbundenen Rechtsanwalt B veranlaßt worden, um den nachteiligen Folgen der Versäumung der Klagefrist durch diese Bevollmächtigte zu begegnen. Er, der Konkursverwalter, habe die aus diesem Verhalten der früheren Prozeßbevollmächtigten resultierende Schadensersatzforderung des Gemeinschuldners an einen Dritten abgetreten, der die Firma X-GmbH vor dem Landgericht verklagt habe. In erster Instanz habe der Forderungsaufkäufer den Prozeß gewonnen. Die Konkursmasse sei am Ergebnis dieses Rechtsstreits beteiligt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Das FG hat zu Recht die Klage als unzulässig abgewiesen. Der Gemeinschuldner hat mit seiner am 29. November 1989 beim FG eingegangenen Klage gegen den Umsatzsteuer-Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung die Klagefrist von einem Monat (§ 47 Abs. 1 FGO) versäumt, weil die Einspruchsentscheidung bereits am 28. Oktober 1989 an die Ehefrau des Gemeinschuldners zugestellt worden ist. Wie das FG zutreffend entschieden hat, ist diese Ersatzzustellung gemäß § 3 Abs. 3 VwZG i. V. m. § 181 Abs. 1 ZPO wirksam.

An der Wirksamkeit der Ersatzzustellung an die Ehefrau als erwachsene Hausgenossin i. S. des § 181 Abs. 1 ZPO bestehen aufgrund des Vorbringens des Revisionsklägers, wonach der Gemeinschuldner und seine Ehefrau -- entgegen der im Klageverfahren abgegebenen Erklärung -- niemals getrennt gelebt haben, keine rechtlichen Zweifel. Es bedarf deshalb nicht der revisionsgerichtlichen Überprüfung der Rechtsauffassung des FG, nach der auch im Falle des Getrenntlebens von Ehegatten in der gemeinsamen Wohnung eine wirksame Ersatzzustellung an den anderen Ehegatten erfolgen kann.

Neues tatsächliches Vorbringen kann in der Revisionsinstanz ausnahmsweise dann berücksichtigt werden, wenn es sich auf Sachurteilsvoraussetzungen bezieht und damit für den Rechtsstreit in seiner Gesamtheit erheblich ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 5. März 1986 II R 5/84, BFHE 146, 27, 31, BStBl II 1986, 462 m. w. N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 118 FGO Tz. 49). Dazu zählt auch die Einhaltung der Klagefrist, die als Prozeßvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens und damit auch vom Revisionsgericht zu überprüfen ist (Urteil des Senats vom 23. April 1985 VII R 109/80, BFH/NV 1987, 304). Der Senat kann deshalb den neuen Tatsachenvortrag des Revisionsklägers hinsichtlich der Wirksamkeit der Ersatzzustellung der Einspruchsentscheidung, da er sich auf die Einhaltung der Klagefrist bezieht (vgl. BFH in BFHE 146, 27, 32, BStBl II 1986, 462 a. E.), seiner Entscheidung zugrunde legen. Er gelangt in freier Würdigung dieses Tatsachenvortrags (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO; Tipke/Kruse, a.a.O., § 118 FGO Tz. 49 a. E.) zu dem Ergebnis, daß der Gemeinschuldner und seine Ehefrau zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt nicht getrennt gelebt haben und deshalb keine Zweifel mehr daran bestehen können, daß die Übergabe der für den Gemeinschuldner bestimmten Einspruchsentscheidung durch den Postzusteller am 28. Oktober 1989 an die Ehefrau in der gemeinsamen Wohnung die Voraussetzungen der Ersatzzustellung nach § 181 Abs. 1 ZPO erfüllt.

Der Senat hält das tatsächliche Vorbringen des Revisionsklägers für glaubwürdig und eine weitere Sachaufklärung insoweit nicht für erforderlich, zumal diese Sachverhaltsdarstellung -- wie dem Revisionskläger bewußt ist -- jede Erfolgsaussicht der Revision vereitelt. Außerdem läßt sich der von der Revision vorgetragene Geschehensablauf -- zunächst verspätete Klage erhebung durch die Prozeßbevollmächtigten des Gemeinschuldners ohne Begründung zur Fristversäumung, dann Vorlage der Ablichtung der ersten Seite der Einspruchsentscheidung mit dem Eingangsvermerk "30. 10. 1989", schließlich Vorlage der (falschen) Erklärung über das Getrenntleben der Eheleute nach erneuter Aufforderung des FG zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags -- aufgrund der Akten des FG nachvollziehen. Die von der Revision behauptete Täuschung des FG auf Veranlassung der Prozeßbevollmächtigten des Gemeinschuldners war schließlich auch die Grundlage für den in erster Instanz erfolgreichen Zivilprozeß über den an einen Dritten abgetretenen Schadensersatzanspruch des Gemeinschuldners gegen dessen Prozeßbevollmächtigte im finanzgerichtlichen Verfahren.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Klagefrist kommt somit nicht in Betracht, weil die Fristversäumung nach dem Vorbringen des Revisionsklägers von dem Prozeßbevollmächtigten des Gemeinschuldners verschuldet worden ist (§ 56 Abs. 1 FGO) und der Gemeinschuldner sich dieses Verschulden zurechnen lassen muß (§ 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO). Im übrigen hat das FG zutreffend entschieden, daß dem Gemeinschuldner nach dem Erhalt der Einspruchsentscheidung von seiner Ehefrau am 30. Oktober 1989 noch genügend Zeit verblieb, um fristgerecht Klage zu erheben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420233

BFH/NV 1995, 522

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