Leitsatz

Ein mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Steuerbescheid zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift begründeter Antrag auf AdV ist abzulehnen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls dem Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht der Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt, ohne dass es einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bedarf.

 

Normenkette

§ 69 FGO

 

Sachverhalt

Der Antragsteller erhielt am 05.01.2009 von seinem Bruder 25 000 EUR geschenkt. Das FA setzte für diesen Erwerb unter Berücksichtigung eines Vorerwerbs von 143 560 EUR aus dem Jahr 2008 gegen den Kläger Schenkungsteuer i.H.v. 4 590 EUR fest. Es wandte dabei den in § 16 Abs. 1 Nr. 5 EStG i.d.F. des Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24.12.2008 (BGBl I 2008, 3018) für den Erwerb der Personen der Steuerklasse II (vgl. § 15 Abs. 1 ErbStG) vorgesehenen Freibetrag von 20 000 EUR und den in § 19 Abs. 1 ErbStG bestimmten Steuersatz von 30 % an.

Den Antrag, die Vollziehung des Schenkungsteuerbescheids auszusetzen, weil ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des ErbStG bestünden, lehnten das FA und das FG ab. Das FG (FG München vom 05.10.2009, 4 V 1548/09, Haufe-Index 2254057, EFG 2010, 158) führte zur Begründung seines Beschlusses aus, die beantragte AdV scheide trotz möglicherweise bestehender verfassungsrechtlicher Bedenken gegen das ErbStG aus, weil dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Haushaltsführung der Vorrang vor dem Aussetzungsinteresse des Klägers zukomme. Da die zentrale Tarifvorschrift des ErbStG betroffen sei, würde sich die Gewährung von AdV auf sämtliche auf der gegenwärtigen Fassung des ErbStG beruhende Festsetzungen von Erbschaft- und Schenkungsteuer auswirken. Dies würde bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Verfassungsfragen durch das BVerfG zu jährlichen Steuerausfällen von rd. 4 bis 5 Milliarden EUR führen. Sollte das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des ErbStG feststellen, werde es zudem voraussichtlich entsprechend seiner bisherigen Entscheidungspraxis die Neuregelung nur für verfassungswidrig, nicht aber für nichtig erklären und die weitere Anwendung bis zu einer Neuregelung zulassen. Dies müsse bei der Entscheidung über die beantragte AdV berücksichtigt werden.

 

Entscheidung

Der BFH bestätigte jetzt im Ergebnis die Rechtsauffassung des FG und wies die gegen dessen Beschluss erhobene Beschwerde als unbegründet zurück.

 

Hinweis

1. Angesichts bereits in der Literatur unter verschiedenen Aspekten erhobener Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des "neuen"ErbStG (i.d.F. des Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24.12.2008, BGBl I 2008, 3018) verwunderte es nicht, dass das erste dazu anhängige Eilverfahren bereits einige Beachtung erfahren hat. Offenbar hatte mancher gehofft, die flächendeckende Anwendung des neuen Rechts könne gleichsam im Keim durch eine schnelle Aussetzungsentscheidung des FG erstickt werden. Nachdem das zuständige FG aber im Streitfall die Aussetzung wegen vorrangiger Fiskalinteressen ablehnte, blieb nur noch die vom FG zugelassene Beschwerde zum BFH, welcher aber unter Aussetzungsgesichtspunkten ebenfalls kein Einsehen mit dem betroffenen Antragsteller hat.

a) Aus der Formulierung des § 69 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Abs. 3 S. 1 Halbs. 2 FGO als Sollvorschrift folgt zunächst, dass bei Bestehen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts das FG dessen Vollziehung im Regelfall auszusetzen hat. Trotz des Vorliegens solcher Zweifel kann aber in besonders gelagerten Ausnahmefällen die AdV dennoch ausnahmsweise abgelehnt werden. Ein solcher Sonderfall liegt nach ständiger Rechtsprechung dann vor, wenn die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen. Ist dies der Fall, ist die Gewährung von AdV zwar nicht per se ausgeschlossen, sie setzt aber wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus.

b) Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung von AdV sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an, während das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift bei dieser Abwägung nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist.

c) Um den konkreten Streitfall zu lösen, listet der BFH zunächst alle Fallkonstellationen auf, in denen bislang dem Aussetzungsinteresse des Ste...

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