Lassen Sie mich diesen Text ausnahmsweise mit „letzten Worten“ starten: Zum Schluss eines jeden Gesprächs für eine Recherche frage ich mein Gegenüber, ob es noch irgendetwas gibt, was ich zu fragen vergessen habe oder was diese Person eigentlich schon immer mal sagen wollte. Stefan Dierks brennt da etwas auf der Seele, er sagt: „Ich spreche viel mit Nachhaltigkeitsmanagerinnen und -managern. Momentan ist die Situation wegen der Rahmenbedingungen nicht ganz so einfach. Ich kann nur sagen: Lasst uns zuversichtlich bleiben. Das heißt nicht, Herausforderungen und Schwierigkeiten auszublenden, sondern den Weg zu mehr Nachhaltigkeit selbstbewusst und positiv weiterzugehen.“
Stefan Dierks ist seit gut 20 Jahren im Sustainability-Business: Ab 2006 hat er den Bereich Corporate Responsibility bei Tchibo aufgebaut, seit 2019 leitet er als Director Sustainability Strategy die 14-köpfige Abteilung Strategische Nachhaltigkeit der Melitta Group mit Hauptsitz in Minden. Ein Vollprofi also. Melitta – das sind nicht nur die von Gründerin Melitta Bentz im Jahre 1908 erfundenen Kaffeefiltertüten. Die Gruppe unterteilt ihr Geschäft in drei strategische Geschäftsfelder: Kaffee, Kaffeezubereitung und die im Tochterunternehmen Cofresco geführten Haushaltsprodukte. Marken wie Melitta, Caffè Corsini oder Deutschlands größter Online-Marktplatz für Kaffee roastmarket.de gehören ebenso zur Gruppe wie Toppits, Swirl, Handy Bag oder Wrapmaster.
Entsprechend weit reicht bei den Ostwestfalen das Thema Nachhaltigkeit: von fairen Arbeitsbedingungen im Kaffeeanbau über die Reparierbarkeit von Kaffeevollautomaten bis hin zur Entwicklung nachhaltiger Gefrierbeutel. Fragt man Stefan Dierks, wie es in Zeiten von Preisschlachten auf dem Kaffeemarkt, einem Regulatorik-Hin-und-Her in der Politik, einer miserablen Kauflaune bei den Menschen in Deutschland und generell mauen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen um die Nachhaltigkeit in der Melitta Gruppe bestellt ist, lautet die kurze Antwort: „Melitta will eine gute Bürgerin sein.“ Die lange Version handelt vom Anspruch, der vielen Familienunternehmen eigen ist, nämlich einen relevanten positiven Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, von der Nachhaltigkeit als unverhandelbarem Bestandteil unternehmerischer Haltung und von der Erkenntnis, dass eine nachhaltige Transformation des Geschäfts notwendig ist, weil sie zum einen die Zukunft des Unternehmens selbst und zum anderen unser aller Lebensgrundlagen sichert.
Zig gute Gründe, weiter auf Nachhaltigkeit zu setzen
Dass das Thema Nachhaltigkeit zumindest gefühlt in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit momentan in den Hintergrund tritt, schmälert das Nachhaltigkeitsengagement der Melitta Gruppe also nicht. Aus mehreren Gründen. Stefan Dierks zählt auf: „China hat Gesetze erlassen, die den europäischen Nachhaltigkeitsberichtsrichtlinien sehr ähnlich sind. Der Finanzsektor fordert in fast allen Ländern, in denen wir tätig sind, die Umsetzung der ISSB-Anforderungen, also Finanzinformationen zu Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen. In den USA sind weiterhin viele der Bundesstaaten dabei, den Klimaschutz und ihr ESG-Engagement voranzutreiben. Das passiert eher im Stillen, sodass der Eindruck entsteht, dass nichts mehr passiert. Der Eindruck täuscht: Das Engagement geht weiter. Und: Das Thema wird auch in der öffentlichen Aufmerksamkeit sehr, sehr sicher wieder zurückkommen.“ Von all diesen externen Faktoren mal abgesehen, herrscht Melitta-intern die Überzeugung, dass wirtschaftlicher Erfolg und nachhaltige Transformation kein Widerspruch sind, sondern sich gegenseitig bedingen, also „gehen wir entsprechend weiter voran“.
Teuer, aufwändig – erfolgreich
Wie gut Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit zusammenspielen, lässt sich in der Filtertütenproduktion im Stammwerk in Minden besichtigen: Dort investierte Melitta vor rund 15 Jahren in eine Absauganlage für Zellstoffabfälle, die beim Zurechtschneiden der Filtertüten entstehen. Die Kosten waren erheblich, der Aufwand hoch. Bis heute aber lässt der Return on Investment Controller-Herzen höherschlagen: weil die Anlage die Abschnitte sortenrein wieder in den Produktionsprozess einspeist, verbraucht Melitta weit weniger Rohmaterial und spart erheblich beim Einkauf. Das ist gut für die Umwelt und für die Bilanz.
In der Vergangenheit hat das Management ein gutes Gespür bewiesen, für das, was kommt. Als vor ein paar Jahren Themen wie Mikroplastik und Umweltverschmutzung durch Kunststoffe breit in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, reagierte das Tochterunternehmen Cofresco mit der Nachhaltigkeitsstrategie „Honest 100“. Seitdem wird das ökologisch nachhaltige Produktsortiment ausgebaut. „Es war klar, dass Rechtsregeln kommen würden und Kunststoff insgesamt kritisch gesehen wird, also haben wir Honest 100 etabliert und uns auf die Verwendung von Rezyklaten, Mehrwegprodukten und alternativen Materialien zu Kunststoffen, wie zum Beispiel Bienenwachstücher, konzentriert. Damit sind wir seit rund fünf Jahren bereits in der Umsetzung und auch erfolgreich“, sagt Stefan Dierks. Die Müllbeutel von Swirl und Handy Bag bestehen heute aus 100 % recyceltem Material, weitere Produkte sollen folgen.
Übrigens: Passend zur Honest 100-Strategie sammeln Cofresco-Mitarbeitende im Rahmen des Corporate Volunteering regelmäßig Plastikmüll an der Weser in Minden und anderen europäischen Standorten ein – die Umweltverschmutzung in der heimischen Natur dürfte noch die letzten Zweifelnden von Sinn und Zweck der Kunststoffvermeidung überzeugen.
Kaffee wird in über 70 Ländern angebaut. Es ist absolut klar, dass niemand alleine diesen Sektor transformieren kann.
Stefan Dierks
Schwieriger als in der eigenen Produktion wird es beim Thema Kaffee. Melitta zählt zu den zehn größten Kaffeeröstern weltweit, das Unternehmen ist in verschiedenen Märkten aktiv und agiert vor Ort individuell. „Wir müssen uns im jeweiligen Markt behaupten und gleichzeitig unsere Glaubwürdigkeit bewahren. Das ist nicht immer ganz einfach“, räumt der Nachhaltigkeitsexperte ein. „Der Kaffeesektor umfasst global rund 12,5 Millionen Haupterwerbsfarmen. Dazu kommt ungefähr die gleiche Anzahl an Nebenerwerbsfarmen, die nicht hauptsächlich vom Kaffeeanbau leben. Kaffee wird in über 70 Ländern angebaut. Es ist absolut klar, dass niemand alleine diesen Sektor transformieren kann.“
Transformation, das bedeutet im Kaffeesektor unter anderem die Umstellung auf regenerative Anbaumethoden. Mit Schattenbäumen, mit organischen Düngemitteln, mit sogenannten Cover-Crops zwischen den Reihen der Kaffeepflanzen wären die Farmen resilienter gegenüber Extremwetterereignissen und der Anbau insgesamt umweltverträglicher. Langfristig würde sich die Produktivität und damit auch das Einkommen der Farmen erhöhen. Allerdings erfordert dieser Transformationsprozess Infrastruktur, Training und Kapital.
Melitta engagiert sich gemeinsam mit globalen und nationalen Organisationen – etwa der Global Coffee Platform oder dem Deutschen Kaffeeverband – um die nötigen Rahmenbedingungen und Regelungen für eine solche Transformation zu schaffen. „Wir tragen unseren Teil bei, sehen aber auch ganz klar: Es geht nur gemeinsam. Deshalb setzen wir uns sehr intensiv für gemeinsame Aktivitäten ein, die durch ihre Skalierung dann auch breit wirken.“ Details zu diesen Aktivitäten seien noch nicht spruchreif, nur so viel: Es gebe viel positives Feedback und eine hohe Bereitschaft mitzuarbeiten „und das stimmt uns sehr hoffnungsfroh, dass wir auch diese riesige Aufgabe in der Gemeinschaft meistern können.“
Nachhaltigkeit in skalierbaren Ökosystemen denken
Wenn es nach Stefan Dierks ginge, würde Nachhaltigkeit weniger in Einzelprojekten als in ganzheitlichen und skalierbaren Ökosystemen gedacht. Sein internes Lieblingsbeispiel ist die von der Melitta Gruppe gemeinsam mit dem Yunus Social Business Fund gegründete Recyclingfirma Vishuddh Recycle im indischen Bangalore. Das Unternehmen ist ein Social Business. Die Gewinne werden ins Unternehmen und in gemeinnützige Organisationen reinvestiert, die für bessere Lebensbedingungen der sogenannten Waste-Picking-Communities sorgen. Dazu zählen die Arbeitsbedingungen, aber auch Gesundheitsvorsorge und Bildung für die Waste Picker und ihre Familien.
Vishuddh Recycle bereitet seit 2022 jährlich 2.000 Tonnen Kunststoffabfälle auf; es entsteht ein hochwertiges Rezyklat, das für die Müllbeutelproduktion von Swirl und Handy Bag wiederverwertet wird. In der Entwicklungsabteilung von Cofresco wird derzeit an einem Müllbeutel aus 100 % Recycling-Material aus Bangalore getüftelt. „Hier ist es uns gemeinsam mit anderen Akteuren gelungen, Menschen, Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie im Sinne der Nachhaltigkeit zu verknüpfen. Davon lernen wir und das gibt uns sehr viel Mut für andere Geschäftsaktivitäten, die wir gerade transformieren.“ Die Zuversicht … man glaubt sie ihm, und sie ist herrlich ansteckend.
Melitta Mit Jero Bentz sitzt ein Vertreter der vierten Unternehmergeneration im Top-Management des Familienunternehmens. Die Melitta Gruppe beschäftigt rund 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erwirtschaftete im Jahr 2023 mehr als 2,1 Milliarden Euro Umsatz und hat für sein Nachhaltigkeitsengagement schon etliche Awards nach Ostwestfalen geholt. Alle Zahlen, Ziele, KPIs, Details über das Umweltmanagementsystem, Ergebnisse und EMAS-Nachweis für Melitta Europa findet sich feinsäuberlich aufgelistet hier. Generell finden sich konkrete Aussagen zu den Nachhaltigkeitszielen der Gruppe schön aufbereitet hier. |