Umsatzsteuerfreie Pflegeleistungen

Hintergrund
P war als Pflegehelferin tätig, ohne über eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegerin zu verfügen. Die Pflegeleistungen erbrachte sie für einen eingetragenen Verein, der Mitglied des paritätischen Wohlfahrtverbandes war, im Rahmen des sog. B-Modells. Nach diesem Modell schloss der Verein Verträge mit pflegebedürftigen Personen und Pflegekassen, die Pflegehelfer schlossen mit dem Verein Qualitätsvereinbarungen ab und wurden so zu aktiven Vereinsmitgliedern. In der Qualitätsvereinbarung verpflichteten sich die Mitglieder, an einem Einführungsseminar und an regelmäßigen Teambesprechungen teilzunehmen, sowie Fortbildungsseminare zu besuchen.
Im Anschluss an eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung vertrat das FA die Auffassung, dass die von P erbrachten Leistungen, die diese dem Verein in Rechnung stellte, umsatzsteuerpflichtig seien. Die dagegen von P eingelegte Klage hatte Erfolg. Das FG entschied, dass die Leistungen zwar nach nationalem Recht steuerpflichtig seien. P könne sich jedoch auf die Steuerfreiheit nach dem Unionsrecht berufen. Dafür reiche es aus, dass die Kosten für die Pflegeleistungen von den Trägern der sozialen Sicherheit übernehmbar seien. Fehlende unmittelbare Leistungsbeziehungen zu den hilfebedürftigen Personen oder den Pflegekassen seien unerheblich.
Entscheidung
Der BFH bestätigte die Auffassung des FG, dass die von P erbrachten Leistungen zwar nicht nach innerstaatlichem Recht, jedoch nach Unionsrecht als steuerfrei anzusehen sind.
Für eine Steuerfreiheit ihrer Leistungen kann sich P auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL berufen. Nach dieser Vorschrift befreien die Mitgliedstaaten eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen - einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden - von der Umsatzsteuer. Werden die Leistungen nicht durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts, sondern durch andere Unternehmer erbracht, muss der Unternehmer als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt sein.
Es ist offensichtlich, dass die Pflegeleistungen der P eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sind. Darüber hinaus ist P aber auch als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt. Wie der EuGH entschieden hat, legt die Unionsrichtlinie 77/388/EWG in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g die Voraussetzungen und Modalitäten der Anerkennung nicht fest (vgl. EuGH, Urteil Zimmermann v. 15.11.2012, C-174/11, EU:C:2012:716, Rz 26). Vielmehr ist es Sache der nationalen Gerichte, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung i.S. dieser Bestimmung ist. Im vorliegenden Fall hat nach Auffassung des BFH das FG die entsprechende Anerkennung der P zu Recht aus § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI abgeleitet. Danach genügt es, dass P als geeignete Pflegekraft die Möglichkeit hatte, Verträge mit Pflegekassen abzuschließen. Ob von ihr Verträge tatsächlich abgeschlossen wurden, ist unerheblich. Als geeignete Pflegekraft ist P auch ohne Berufsabschluss in einem Pflegeberuf anzusehen, weil sie mit dem Verein Qualitätsvereinbarungen getroffen und Nachweise über Fortbildungen vorgelegt hat.
Hinweis
Das FA hatte in seiner Revisionsschrift beantragt, das Verfahren auszusetzen und ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten zur Klärung der Frage, ob Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL dahingehend auszulegen ist, dass die konkrete Anerkennung der Pflegekraft durch den Mitgliedstaat erforderlich ist. Der BFH hat für ein solches Vorabentscheidungsersuchen allerdings keine Veranlassung gesehen. Für ihn bestanden keinerlei Zweifel an der zutreffenden Auslegung der fraglichen Unionsvorschrift. Es sei nämlich zu berücksichtigen, dass diese Bestimmung die dort bezeichneten Dienstleistungen, die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Gerechtigkeit verbunden sind, "einschließlich derjenigen, die durch Altenheime … oder andere … anerkannte Einrichtungen bewirkt werden", befreie. Aus dieser Formulierung gehe hervor, dass der Anerkennung keine zwingende Bedeutung zukomme.
Der BFH weist in der Urteilsbegründung zudem ausdrücklich darauf hin, dass er bei seiner Entscheidung auch den gerichtsbekannten Pflegenotstand und das sich hieraus ergebende hohe Gemeinwohlinteresse berücksichtigt habe, das an der Erbringung steuerfreier Pflegeleistungen bestehe.
BFH, Urteil v. 18.8.2015, V R 13/14, veröffentlicht am 14.10.2015
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