Kindergeld für den im Ausland lebenden Elternteil
Hintergrund
Der in Deutschland lebende Vater (V) ist von seiner früheren Ehefrau (E) geschieden. E lebt mit dem gemeinsamen Sohn (S) in Polen. V bezog im Streitzeitraum (Januar 2011 bis Oktober 2012) zunächst Arbeitslosengeld, war danach zeitweilig berufstätig und bezog später Leistungen nach dem SGB II. E war in Polen erwerbstätig, hatte aber wegen der nach polnischem Recht geltenden Einkommensgrenze keine Anspruch auf polnische Familienleistungen. Einen Antrag auf Familienleistungen hatte sie nach deutschem oder polnischem Recht nicht gestellt.
V, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, beantragte in 2012 Kindergeld für S. Die Familienkasse lehnte den Antrag ab, da E nach deutschem Recht wegen der Aufnahme des S in ihren Haushalt vorrangig kindergeldberechtigt sei (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Das FG gab der anschließend erhobenen Klage des V statt. Es war der Ansicht, die Bestimmung des Kindergeldberechtigten richte sich nicht nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG, weil E nicht die Anspruchsvoraussetzungen (Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt im Inland) erfülle. Auf die anschließend von der Familienkasse erhobene Revision setzte der BFH das Revisionsverfahren aus und legte die Problematik dem EuGH vor (Vorlagebeschluss v. 8.5.2014, III R 17/13, BStBl II 2015, 329). Einschlägig ist die unionsrechtliche Vereinheitlichung der nationalen Regelungen zur sozialen Sicherheit (Art. 60 der VO Nr. 987/2009; Geltung ab Mai 2010). Der EuGH entschied dazu, dass die Wohnsitzfiktion dazu führen kann, dass der nach nationalem Recht gegebene Kindergeldanspruch auch einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Person zustehen kann. Unerheblich ist, ob diese Peron einen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat (EuGH, Urteil v. 22.10.2015, C-378/14, Rechtssache Trapkowski).
Entscheidung
Nach Ergehen des EuGH-Urteils konnte der BFH über die Revision entscheiden. Der BFH hob das FG-Urteil auf und wies die Klage ab. Der Kindergeldanspruch steht nicht V zu. Vielmehr hat E einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld.
- Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist die Situation der gesamten Familie in der Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsordnung des Mitgliedstaates fallen und dort wohnen (Wohnsitzfiktion).
- Zu den "beteiligten Personen" gehören die Familienangehörigen, das sind neben den Eltern alle Personen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben. Da das deutsche Kindergeldrecht nicht danach unterscheidet, ob die Eltern verheiratet sind, ist auch die geschiedene E Familienangehörige. Aufgrund der Wohnsitzfiktion gilt E somit als in Deutschland lebend.
- Damit steht E der Anspruch auf Kindergeld zu, da nach deutschem Recht das Kindergeld bei getrennt lebenden Eltern vorrangig an den Elternteil ausgezahlt wird, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
- Außerdem hat der EuGH entschieden, dass das Fehlen eines im EU-Ausland gestellten Antrags auf Familienleistungen nicht dazu führt, dass die Wirkung der Wohnsitzfiktion entfällt.
Hinweis
Mit dem Anschluss des BFH an das EuGH-Urteil ist die Problematik geklärt, wem das Kindergeld zusteht, wenn das Kind in den Haushalt des im EH-Ausland lebenden Elternteils aufgenommen ist. Die FG haben bisher unterschiedlich geurteilt. Überwiegend wurde vertreten, die Fiktionswirkung könne nicht so weit gehen, demjenigen Elternteil das Kindergeld zu zahlen, der nach den nationalen Vorschriften der Kindergeldberechtigte sei, auch wenn er selbst (hier E) nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterliege. Die Entscheidung ist von allgemeiner Bedeutung für Fälle, in denen die Eltern eines Kindes in unterschiedlichen EU-Staaten leben und in keinem EU-Staat ein gemeinsamer Haushalt der Eltern und des Kindes besteht. Die Familienkasse wird nunmehr über den Kindergeldanspruch der E zu entscheiden haben.
BFH, Urteil v. 4.2.2016, III R 17/13, veröffentlicht am 8.6.2016
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