Bescheidänderung wegen neuer Tatsachen nach Vorläufigkeitsvermerk
Hintergrund
Zu entscheiden war, ob der für vorläufig erklärte ESt-Änderungsbescheid wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO noch geändert werden durfte.
A wurde vom FA für das Streitjahr 2004 erklärungsgemäß veranlagt (Juni 2006). Dagegen legte sie Einspruch ein wegen Berücksichtigung des Alleinerziehenden-Entlastungsbetrags (§ 24b EStG) und beantragte das Ruhen des Verfahrens wegen anhängiger Musterverfahren beim BFH bzw. beim BVerfG (Rentenversicherungsbeiträge als Sonderausgaben, Solidaritätszuschlag, Krankenversicherungsbeiträge als Vorsorgeaufwendungen usw.). Das FA erließ einen Änderungsbescheid, in dem es im Wege der Teilabhilfe den Alleinerziehenden-Entlastungsbetrag teilweise gewährte und dem Ruhen des Verfahrens zustimmte (Juli 2006). Auf den erneuten Einspruch gewährte das FA den Entlastungsbetrag in voller Höhe und stimmte (ebenfalls noch im Juli 2006) dem weiteren Ruhen des Verfahrens zu. Es wies darauf hin, dass es sich um eine Teilabhilfe handele und sich der Einspruch dadurch nicht erledige. Im Juni 2009 nahm das FA - nachdem es A mitgeteilt hatte, ein weiteres Ruhen des Verfahrens komme nicht in Betracht - im Hinblick auf die Musterverfahren entsprechende Vorläufigkeitsvermerke in den Bescheid auf. Im Übrigen blieb der Bescheid unverändert.
Im März 2010 erließ das FA erneut einen geänderten Bescheid, mit dem es einen geldwerten Vorteil aufgrund einer Kfz-Überlassung an A ansetzte. Das FA wertete eine Prüfmitteilung vom März 2008 aufgrund einer beim Arbeitgeber der A durchgeführten LSt-Außenprüfung aus.
Gegen diesen Änderungsbescheid wandte A ein, zum Zeitpunkt der Vornahme der Vorläufigkeitsvermerke (Juni 2009) seien die Feststellungen der LSt-Außenprüfung (März 2008) bereits bekannt gewesen. Bei der erneuten Änderung im März 2010 seien daher die Feststellungen nicht mehr neu gewesen. Eine Änderung wegen neuer Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO scheide daher aus. Die dagegen erhobene Klage wies das FG mit der Begründung ab, das FA sei beim Erlass des Vorläufigkeitsbescheids (Juni 2009) nicht verpflichtet gewesen, den Sachverhalt von Amts wegen umfassend aufzuklären.
Entscheidung
Ebenso wie das FA und das FG ist auch der BFH der Auffassung, dass ein Änderungsbescheid, der wegen anhängiger Musterverfahren für vorläufig erklärt wird, auch dann noch wegen neuer Tatsachen geändert werden kann, wenn die Tatsachen dem FA bereits beim Erlass der Vorläufigkeitserklärung bekannt geworden sind.
Tatsachen und Beweismittel, die bei der abschließenden Zeichnung des Bescheids (Änderungsbescheid vom Juni 2009) schon vorhanden waren (Prüfungsmitteilung vom März 2008), berechtigen nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr zur Korrektur, wenn aufgrund der Ermittlungspflicht des FA Anlass bestand, sie bereits beim Erlass des Bescheids zu berücksichtigen.
Ist das FA jedoch bei einer beabsichtigten Bescheidänderung (Juni 2009) ihrer Art nach nicht zur weiteren Sachprüfung verpflichtet, bleibt eine spätere Änderung (März 2010) des (vorherigen) Änderungsbescheids nach § 173 AO möglich.
- Eine solche Pflicht zur umfassenden Berücksichtigung aller bis dahin bekannt gewordenen Tatsachen besteht insbesondere nicht bei Änderungen nach Ergehen eines Grundlagenbescheids, die das FA ohne eigene Sachprüfung übernehmen muss (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO).
- Entsprechendes gilt, wenn das FA - wie hier - im Hinblick auf Musterverfahren die Steuer nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig festsetzt. Auch in diesen Massenrechtsbehelfen, die allein darauf abzielen, eine spätere Änderung zu ermöglichen, ist das FA lediglich zu einer punktuellen Prüfung des Bescheids im Hinblick auf den Vorläufigkeitsausspruch verpflichtet. Andere als die die Ungewissheit betreffenden Tatsachen brauchen nicht berücksichtigt zu werden, auch wenn sie dem FA zum Zeitpunkt der Bescheidänderung bekannt sind oder als Bestandteil der Akten als bekannt gelten.
Hiervon ausgehend durfte der ESt-Bescheid vom Juni 2009 durch das FA geändert werden. Denn die Erkenntnisse aus der Prüfungsmitteilung vom März 2008 gelten als neu, auch wenn sie zum Zeitpunkt der punktuellen Änderung im Juni 2009 bereits Inhalt der Akten waren. Dies deshalb, weil das FA insoweit nicht zu Ermittlungen verpflichtet war. Der Änderungsbescheid vom März 2010 ist damit rechtmäßig.
Hinweis
Wie bei einem erstmaligen Bescheid ist das FA auch bei einem Änderungsbescheid grundsätzlich nach § 88 AO verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen umfänglich zu ermitteln, ohne an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein (§ 88 AO). Das kann aber nicht gelten, wenn das FA einen Bescheid wegen eines Grundlagebescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ändern muss. Denn das FA hat den Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung zu übernehmen. Es kann ihm nicht zugemutet werden, bei jeder Folgeänderung zu prüfen, ob neue Tatsachen vorliegen, die eine weitergehende Änderung rechtfertigen würden. Ebenso ist es, wenn ein Bescheid lediglich wegen rechtlicher Ungewissheiten (anhängige Musterverfahren usw.) nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO für vorläufig erklärt wird. Auch hier ist das FA nur zu einer punktuellen Prüfung im Hinblick auf den Vorläufigkeitsvermerk verpflichtet. Folglich ist auch nach der Vorläufigkeitserklärung noch eine Änderung wegen neuer Tatsachen nach § 173 AO möglich, auch wenn diese dem FA bereits bekannt waren.
Der BFH hat über die Revision nicht durch Urteil, sondern - ohne mündliche Verhandlung - durch Beschluss nach § 126a FGO entschieden. Von dieser Möglichkeit macht der BFH Gebrauch, wenn er die Revision einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Der BFH ging somit davon aus, die Rechtslage sei eindeutig und in einer mündlichen Verhandlung könnten keine weiteren Argumente vorgebracht werden.
BFH, Beschluss v. 18.12.2014, VI R 21/13, veröffentlicht am 1.4.2015
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