Aufrechnung von Umsatzsteuererstattungsansprüchen

Der BFH hat kürzlich die Frage entschieden, ob das Finanzamt gegen einen Umsatzsteuererstattungsanspruch mit Insolvenzforderungen aufrechnen kann, wenn eine Organschaft erst nach Insolvenzeröffnung festgestellt wurde.

Beispiel: Aus Haftung entstandene Aufrechnungslage

Über das Vermögen der X-GmbH wurde mit Beschluss vom 01.01.2019 das Insolvenzverfa-ren eröffnet. Mit Beschluss vom gleichen Tag wurde auch das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Y-GmbH eröffnet. Das Finanzamt verrechnete nach Insolvenzeröffnung fest-gesetzte Umsatzsteuererstattungsansprüche 2016 bis 2018 i. H. von insgesamt 100.000 EUR der X-GmbH mit rückständigen Insolvenzforderungen (Umsatzsteuer 2016-2018) der Y-GmbH. Die Aufrechnungslage ergab sich aus einer Haftungsberechnung, da die X-GmbH aufgrund einer nachträglich erkannten Organschaft nach § 73 AO für Steuern des Organträgers in Haftung genommen wurde.

Organschaft und Haftung

Bei einer umsatzsteuerlichen Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG) erfolgt die Inanspruchnahme im Wege der Haftung auf der Grundlage des § 191 i. V. m. § 73 AO. Nach § 73 AO haftet eine Organgesellschaft für solche Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist. Die Organschaft endete mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Die Haftung besteht jedoch auch nach Beendigung der Organschaft fort, soweit es sich - wie hier - um während der Organschaft entstandene Steueransprüche handelt.

Zwar darf das Finanzamt – bedingt durch das Insolvenzverfahren – einen Haftungsbescheid nach Eröffnung nicht mehr für Insolvenzforderungen erlassen, hierzu hat der BFH aber entschieden, dass das Finanzamt in einem Insolvenzverfahren mit Haftungsansprüchen, die vor Eröffnung des Verfahrens entstanden sind, aufrechnen darf, ohne dass es des vorherigen Erlasses eines Haftungsbescheides, der Feststellung der Haftungsforderung oder ihrer Anmeldung zur Tabelle bedarf (vgl. BFH Urteil vom 10.05.2007 - VII R 18/05).

§ 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO und Insolvenzrechtliche Begründung 

Nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist.
§ 95 Abs. 1 Satz 1 InsO gestattet dagegen auch demjenigen Insolvenzgläubiger eine Aufrechnung während des Insolvenzverfahrens, der erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas schuldig geworden ist, wenn die Schuld bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufschiebend bedingt entstanden war. Ob ein Erstattungsanspruch aufschiebend bedingt im Sinne von § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden und der Beklagte dementsprechend nicht erst im Sinne von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO nach Verfahrenseröffnung etwas zur Masse schuldig geworden ist, hängt nach der Rechtsprechung des BFH davon ab, ob eine Forderung "ihrem Kern nach" bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist.

Der zugrunde liegende zivilrechtliche Sachverhalt, der zu der Entstehung des steuerlichen Anspruches führt, muss bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht sein, wovon in der Regel auszugehen ist, wenn eine Steuer, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist, zu erstatten oder zu vergüten oder in anderer Weise dem Steuerpflichtigen wieder gut zu bringen ist.

So entspricht es z. B. der langjährigen Rechtsprechung des BFH, dass ein Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO aufgrund zu hoher bzw. nicht geschuldeter Vorauszahlungen bereits im Zeitpunkt der Entrichtung der jeweiligen Vorauszahlung unter der aufschiebenden Bedingung entsteht, dass am Ende des Besteuerungszeitraums die geschuldete Steuer geringer ist als die Vorauszahlung. Auf die steuerrechtliche Entstehung § 38 AO oder gar Festsetzung des Erstattungsanspruchs kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.

BFH zu Uneinbringlichkeit

Irritation kam bezüglich dieser Grundsätze durch ein BFH Urteil vom 25.07.2012 - VII R 29/11, auf. Hier hatte der BFH entschieden, dass es für die Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO entscheidend ist, wann der materiell-rechtliche Berichtigungstatbestand des § 17 Abs. 2 UStG verwirklicht wird. Nicht entscheidend sei, wann die zu berichtigende Steuerforderung begründet worden ist. Bestätigung fand die Rechtsprechung im Rahmen von weiteren Urteilen zum § 14c UStG und § 16 GrEStG.

§ 37 Abs. 2 gehört nicht dazu 

Der BFH hat aber jetzt klargestellt (Urteil vom 15.10.2019 - VII R 31/17), dass sich an den lang-jährigen Grundsätzen durch die Rechtsprechung zu den §§ 14c, 17 UStG und 16 GrEStG nichts geändert hat, denn diese Regelungen gewähren allesamt eigenständige Berichtigungsansprüche mit jeweils eigenen materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen, an die sich besondere Rechtsfolgen knüpfen, denen keine Rückwirkung zukommt. Auf den Fall eines Erstattungsanspruchs § 37 Abs. 2 AO aufgrund zu hoher bzw. materiell-rechtlich nicht geschuldeter Vorauszahlungen ist diese Rechtsprechung demnach nicht anwendbar.

Vielmehr ist hier der Erstattungsanspruch der X-GmbH materiell-rechtlich bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden, weil die Guthaben aus der Umsatzsteuer 2016-2018 auf Vorauszahlungen beruhen, die von der X-GmbH bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geleistet wurden, ohne dass hierfür - wegen des Bestehens einer Organschaft - ein (materieller) Rechtsgrund bestand. Das Finanzamt ist somit in Bezug auf diesen Erstattungsanspruch bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens i.S. von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO "etwas zur Insolvenzmasse schuldig" geworden, sodass eine Aufrechnung mit Insolvenzforderungen (vorbehaltlich § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO) zulässig ist.