Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bedarfsgemeinschaft. volljähriges Kind. Haushaltsangehörigkeit bei beiden Elternteilen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein volljähriges unter 25jähriges unverheiratetes Kind, das sich jeweils zur Hälfte bei seinen Elternteilen aufhält, gehört beiden Haushalten an. Ist der jeweilige Elternteil leistungsberechtigt nach dem SGB II, ist das Kind nach § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II Teil der Bedarfsgemeinschaft, wenn es sich während des Aufenthaltes beim anspruchsberechtigten Elternteil nicht selbst unterhalten kann. Das folgt aus dem Wortlaut des § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II und dem Bedarfsdeckungsprinzip. Auf die Grundsätze der temporären Bedarfsgemeinschaft, die grundsätzlich ein Umgangsrecht und Minderjährigkeit des Kindes voraussetzen, kommt es bei dieser Konstellation nicht an.

2. Ob eine Erweiterung des Instituts der temporären Bedarfsgemeinschaft auf volljährige Kinder bei fehlender Bedarfsdeckung des Kindes erforderlich ist, kann - wie hier - offen bleiben, wenn jedenfalls von Haushaltsangehörigkeit ausgegangen werden muss.

3. Das Jobcenter muss dem volljährigen Kind anteilige Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für den Zeitraum des Aufenthalts beim leistungsberechtigten Elternteil erbringen.

 

Tenor

Der Bescheid des Beklagten vom 09.03.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2016 wird abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis 31.08.2016 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Dabei geht es insbesondere darum, ob der Kläger trotz Volljährigkeit noch Teil der (temporären) Bedarfsgemeinschaft ist.

Der am … geborene Kläger lebt, ebenso wie seine beiden jüngeren Brüder, seit der Scheidung seiner Eltern abwechselnd beim Vater, der Leistungen nach dem SGB II bezieht, und bei seiner Mutter, einer Lehrerin im Beamtendienst. Die Aufenthaltszeiten sind hälftig aufgeteilt. Die Eltern haben sich im Rahmen einer familiengerichtlichen Vereinbarung gegenseitig von Unterhaltsansprüchen ihrer Kinder freigestellt.

Der Kläger hat im Frühjahr 2016 das Abitur abgelegt. Er studiert seit Wintersemester 2016/2017 in …. Er erhielt und erhält von seinen Eltern keinen Barunterhalt. Das den Kläger betreffende Kindergeld wird seiner Mutter ausgezahlt. Im streitgegenständlichen Zeitraum war der Kläger polizeilich bei seiner Mutter gemeldet.

Für die Wohnung des Vaters des Klägers müssen monatlich 542,27 € aufgebracht werden. Hinzu kommen weitere kalte Nebenkosten (Schornsteinfeger, Wasser/Abwasser, Müllgebühren) und Heizkosten, die jährlich anfallen. Die Warmwassererzeugung erfolgt dezentral.

Der Beklagte gewährte der temporären Bedarfsgemeinschaft bestehend aus dem Kläger, dessen Vater und den Brüdern des Klägers ab September 2013 Leistungen nach dem SGB II. Dabei wurden dem Kläger zunächst auch über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus Leistungen gewährt (zuletzt Bescheid vom 03.11.2015 für den Bewilligungszeitraum vom 01.09.2015 bis 29.02.2016).

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 09.03.2016 setzte der Beklagte die Leistungen der Bedarfsgemeinschaft für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis 31.08.2015 fest, ohne dabei Leistungen für den am 28.01.2015 volljährig gewordenen Kläger zu gewähren. Der Vater des Klägers erhob Widerspruch gegen die Nichtberücksichtigung des Klägers und nach dessen Zurückweisung mit Widerspruchsbescheid vom 08.04.2016 am 09.05.2016 Klage zum Sozialgericht Reutlingen.

Das Gericht hat das zunächst auf den Vater des Klägers geführte Aktivrubrum auf den Kläger umgestellt. Der Kläger hat ausdrücklich erklärt, sein Vater habe in seinem Sinne geklagt.

Der Kläger vertritt die Auffassung, er sei Teil der Familie. Ein Angriff auf diese Institution sei ein Vergehen gegen das Grundgesetz.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 09.03.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2016 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis 31.08.2016 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Ein volljähriges unverheiratetes Kind bilde bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur dann eine Bedarfsgemeinschaft mit seinen Eltern oder einem Elternteil, wenn es dauerhaft (und nicht nur temporär) dem Haushalt eines Elternteils angehört (Hinweis auf Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 06.08.2014 - B 4 AS 55/13 R - ≪juris≫). Die hier vorliegende Bedarfslage des Klägers unterscheide sich deutlich von der eines minderjährigen Kindes im Rahmen der zeitweisen Aufnahme in den Haushalt des umgangsberechtigten Elternteils; die “temporäre„ Bedarfsgemeinschaft verschaffe ihm keinen eigenen Leistungsanspruch (Vorbringen des Beklagten unter dem Az.: S 7 AS ...

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