Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Erfordernis einer Befristungsregelung. konkludente Bewilligungspraxis. Analogleistung. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Sozialwidrigkeit. subjektive Vorwerfbarkeit. Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft. Nachweis gemeinschaftlicher Haushaltsführung. verfassungskonforme Auslegung. sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Regelungsanordnung. Folgenabwägung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Fehlt bei der Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG die in § 14 Abs 1 AsylbLG vorgeschriebene Befristungsregelung, ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig.

2. Für die Frage der Sozialwidrigkeit einer unterlassenen Mitwirkungshandlung sind psychische Beeinträchtigungen sowie familiäre Umstände zu berücksichtigen. Die hohe Intensität der Beeinträchtigungen kann einer abschließenden Aufklärbarkeit im Eilverfahren entgegenstehen.

3. Im grundrechtssensiblen Bereich unterliegt konkludente Bewilligungspraxis der Verwaltung besonders strenger gerichtlicher Kontrolle, wenn sie über einen langen Zeitraum Anwendung findet. Konkludente Bewilligungspraxis und lange Dauer von Widerspruchsverfahren können im gerichtlichen Eilverfahren die Annahme eines offenen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens stützen.

4. Die Anwendbarkeit der Regelbedarfsstufe 2 nach § 2 Abs 1 S 4 Nr 1 AsylbLG bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft setzt ein tatsächliches gemeinsames Wirtschaften voraus.

 

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 28.04.2020 wird angeordnet.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 29.04.2020 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, dem durch Widerspruch vom 28.04.2020 eingeleiteten Widerspruchsverfahren gegen die Leistungsgewährung ab dem 01.04.2020, bei Zurückweisung des Widerspruchs und anschließender fristgerechter Klageerhebung gegen den insoweit zu erteilenden Widerspruchsbescheid darüber hinaus, längstens jedoch solange die Antragstellerin in einer Gemeinschaftsunterkunft lebend vom Antragsgegner Leistungen nach dem AsylbLG erhält und längstens bis zum 02.03.2021, Leistungen nach § 2 Abs. 1 S. 1 Asylbewerberleistungsgesetz in analoger Anwendung des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch auf Grundlage der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Gewährung höherer Leistungen im Rahmen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Die 1984 geborene Antragstellerin ist äthiopische Staatsangehörige und wurde mit Bescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 03.02.2016 dem Antragsgegner zur Aufnahme zugewiesen.

Sie lebte zunächst mit ihrem Ehemann und ihren beiden vier und neun Jahre alten Kindern gemeinsam, nach der Trennung von ihrer Familie alleine in kommunal angemieteten Wohnungen in C-Stadt (Bl. 40/106/294 d. Verwaltungsakte). Die Trennung von ihrer Familie erfolgte in Folge von Vorfällen häuslicher Gewalt durch die Antragstellerin gegenüber den Kindern (Bl. 17 f. d. Verwaltungsakte). Ausweislich der Verwaltungsakte litt die Antragstellerin seit ihrer Zuweisung an psychischen Problemen (Bl. 18 d. Verwaltungsakte). Vom 25.01.2018 bis zum 06.02.2018 befand sie sich in stationärer Behandlung in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Haina. Im vorläufigen Abschlussbericht der Klinik vom 06.02.2018 wurde bei der Antragstellerin unter anderem eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Der Anamnese ist zu entnehmen, dass die Antragstellerin den Tod vieler Familienangehöriger, darunter neun ihrer zwölf Geschwister, sowie die Sorge um die weiter in Krisenregionen lebenden Geschwister als ursächlich für ihre psychischen Probleme benannte (Bl. 19 ff. d. Verwaltungsakte).

Mit Bescheid des Antragsgegners vom 06.01.2020 nach vorheriger Anhörung durch Anhörungsschreiben vom 20.12.2019 wurde der Antragstellerin ein Wohnplatz in der Gemeinschaftsunterkunft „D.“ für ausländische Flüchtlinge in A-Stadt bereitgestellt (Bl. 285 d. Verwaltungsakte). Seit dem 03.03.2020 wohnt die Antragstellerin in dieser Gemeinschaftsunterkunft (Bl. 327 d. Verwaltungsakte).

Der Asylantrag der Antragstellerin wurde abgelehnt. Diese Entscheidung ist nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 05.09.2017 seit dem 28.11.2017 rechtskräftig. Der Asylfolgeantrag vom 18.09.2018 wurde ebenfalls abgelehnt. Diese Entscheidung ist nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 25.11.2019 seit dem 25.02.2020 rechtskräftig (Bl. 345 d. Verwaltungsakte).

Die Antragstellerin steht seit geraumer Zeit im Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG beim Antragsgegner. Mit Bescheid vom 15.02.2018 bewil...

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