Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Verletztenrente. MdE. Datenschutzrecht. Gutachterauswahlrecht und Widerspruchsrecht gem § 200 Abs 2 SGB 7. fehlerhaft eingeholte gutachterliche Stellungnahme. Beweisverwertungsverbot. Entscheidung des LSG: Aussonderung der gutachterlichen Stellungnahme aus Verfahrensakte

 

Leitsatz (amtlich)

1. Nach § 200 SGB 7 besteht das für den Versicherten geltende Gutachterauswahlrecht und die damit einhergehende Pflicht des Unfallversicherungsträgers, auf das Widerspruchsrecht des Versicherten gegen die Übermittlung seiner Sozialdaten hinzuweisen, auch im Gerichtsverfahren (vgl BSG vom 5.2.2008 - B 2 U 8/07 R = SozR 4-2700 § 200 Nr 1 = SGb 2009, 40). Danach kann ein Unfallversicherungsträger im Gerichtsverfahren weitere medizinische Ermittlungen nur vornehmen, wenn er ein neues Gutachterauswahlverfahren zuvor gegenüber dem Versicherten durchgeführt hat, oder wenn er sich lediglich zu einem vom Gericht eingeholten Gutachten ärztlich beraten lässt.

2. Eine im Verwaltungsverfahren zulässig vorgenommene Gutachterauswahl nach § 200 SGB 7 erlaubt es dem Unfallversicherer nicht, im Gerichtsverfahren ohne Beteiligung des Versicherten und des Gerichts eine neue gutachterliche Stellungnahme dieses Sachverständigen in Auftrag zu geben und in das Verfahren einzuführen.

3. Entgegen der Rechtsprechung des BSG (entgegen BSG vom 5.2.2008 - B 2 U 8/07 R = SozR 4-2700 § 200 Nr 1) war die fehlerhaft eingeholte gutachterliche Stellungnahme vom erkennenden SG jedoch nicht aus der Akte zu entfernen, da hierüber gegebenenfalls das Landessozialgericht als zweite Tatsacheninstanz neu befinden könnte. Erst dem LSG obliegt es, über die endgültige Aussonderung aus der Verfahrensakte zu entscheiden.

 

Orientierungssatz

1. Mit dem im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden zweistufigen Rentenprinzip nach § 62 SGB 7 soll gewährleistet werden, dass etwaige körperliche Anpassungs- und Gewöhnungsprozesse bei der Feststellung einer Dauerrente berücksichtigt werden können. Letztlich kommt es bei Feststellung der Dauerrente somit einzig auf den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Gesundheitszustand an.

2. Um die MdE in Folge eines Versicherungsfalles festzustellen, ist die vor dem Versicherungsfall bestehende individuelle Erwerbsfähigkeit eines Versicherten (Ausgangswert) mit demjenigen danach zu vergleichen (Beziehungswert). Dabei hängt der Grad der MdE nicht nur von der medizinischen Beurteilung ab, welche körperlichen Schäden und Funktionsausfälle vorliegen, sondern auch davon, welche Arbeiten der Verletzte bei seinem Gesundheitszustand noch verrichten kann. Die Frage nach dem Grad der unfallbedingten MdE ist deshalb in erster Linie eine Rechtsfrage. Eine Bindung des Unfallversicherungsträgers oder des Gerichts an die ärztlichen Gutachten besteht nicht. Hat ein Arbeitsunfall Schäden an mehreren Körperteilen oder/und Funktionssystemen hinterlassen, so ist die MdE im Ganzen zu würdigen. Eine schematische Zusammenrechnung, der für die einzelnen Leiden in Ansatz gebrachten Sätze darf nicht erfolgen. Die Gesamt-MdE ist deshalb nicht rechnerisch aus einzelnen MdE-Graden zu ermitteln, sondern auf einer Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Minderungen zu bemessen.

 

Tenor

1. Unter Abänderung des Bescheids vom 08.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.07.2006 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 v. H. zu zahlen.

2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung einer Verletztenrente nach den Vorschriften des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H.

Die 1973 geborene Klägerin war Altenpflegerin und in dieser Tätigkeit bei der Beklagten im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Am 15.07.2007 überschlug sie sich auf dem Weg zur Arbeit mit ihrem PKW. Der Durchgangsarzt Dr. QZ., E-Stadt, diagnostizierte am selben Tag eine Halswirbelkörper-Fraktur mit Hautabschürfungen und Schnittverletzungen. Die Klägerin wurde unverzüglich in das Klinikum B-Stadt verlegt. An die folgende klinische Behandlung schloss ein langer Heilbehandlungsverlauf mit seelischen Reaktionen an. Im Verwaltungsverfahren zog die Beklagte daraufhin umfangreiche Arztbriefe und Krankenbehandlungsunterlagen bei. Im Februar 2004 beauftragte die Beklagte zunächst das Klinikum B-Stadt mit der Erstellung eines ersten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens. Die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie C. VI. kam in ihrem Gutachten vom 28.05.2004 zu dem Ergebnis, dass Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit teilursächlich durch den Arbeitsunfall ausgelöst worden seien. Es bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Die MdE werde mit 30 v. H. eingeschätzt, es bestehe abe...

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