Entscheidungsstichwort (Thema)

Versorgung des lebensbedrohlich Erkrankten mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel im Wege des einstweiligen Rechtschutzes

 

Orientierungssatz

1. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln zu Lasten der Krankenkasse kommt nach § 35c SGB 5 nur dann in Betracht, wenn zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung keine andere Therapie zur Verfügung steht und die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann (BSG Urteil vom 26. 9. 2006, B 1 KR 1/06 R). Eine kontrollierte klinische Prüfung der Phase 3 zur Erfolgsaussicht für das Arzneimittel Bevacizumab zur Behandlung eines Glioblastoms (Hirntumor) existiert bisher nicht.

2. Bei Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung kann aufgrund der derzeitigen Forschungsergebnisse eine spürbar positive Einwirkung des Arzneimittels Bevacizumab auf den Krankheitsverlauf bei einem bestehenden Hirntumor nicht ausgeschlossen werden.

3. Infolgedessen ist zumindest im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes bei der Anwendung von § 2 Abs. 1a SGB 5 sich stellenden Fragen eine Folgenabwägung geboten. Dabei haben die rein wirtschaftlichen Belange der Krankenkasse gegenüber einer Vermeidung der Verschlechterung des Krankheitsbildes des Versicherten zurückzustehen.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des

Sozialgerichts Lübeck vom 21. Juni 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Bevacizumab (Avastin) zur Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms.

Die Antragstellerin ist am 1967 geboren und bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Im Januar 2020 wurde bei ihr ein sekundäres Glioblastom rechts, WHO Grad IV, nach Resektion eines anaplastischen Astrozytoms diagnostiziert. Anschließend erfolgte eine adjuvante kombinierte Radiochemotherapie mit Temozolomid bis August 2020. Im Mai 2020 wurde eine Re-Resektion durchgeführt. Eine Implantation eines Rickham-Reservoirs (ein bei Hirntumoren eingesetztes Kathetersystem) im Juni 2020 musste wegen chronischer Wundheilstörungen im August 2020 wieder entfernt werden. Auf das erste Rezidiv erfolgte eine PC Chemotherapie (Chemotherapie mit mehreren zytostatischen Wirkstoffen) von August bis Dezember 2020. Ein zweites Rezidiv wurde im Dezember 2020 reseziert. Es schloss sich bis Februar 2021 eine Re-Bestrahlung an. Seit Februar 2020 wurde eine metronomische TMZ-Therapie mit 50 mg/d absolut etabliert. Mittlerweile ist die Antragstellerin austherapiert und erhält eine palliative Behandlung.

Den Antrag der Antragstellerin vom 28. Januar 2021 auf Kostenübernahme für eine Rezidivbehandlung mit Bevacizumab (Avastin) bei Glioblastom als individuellem Heilmittelversuch lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 9. Februar 2021 ab. Die Kostenübernahme würde auch im Einzelfall seit der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. Dezember 2016 (B 1 KR 1/16 R) einen Verstoß gegen das Arzneimittelrecht beinhalten. Über den am 25. Februar 2021 von der Antragstellerin dagegen erhobenen Widerspruch ist bisher nicht entschieden worden.

Im Widerspruchsverfahren trug die Antragstellerin unter Vorlage eines Schreibens des Universitätsklinikums Essen vom 17. März 2021 vor, die im Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Kriterien seien erfüllt. Sie leide an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, die innerhalb kurzer Zeit zu einer Verschlechterung führen könne und bei der innerhalb kurzer Zeit mit dem Tod gerechnet werden müsse. Eine anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung bestehe nicht. Daher müsse ohne weiterführende medikamentöse Behandlung mit höchster Wahrscheinlichkeit mit einem weiteren Tumorwachstum und einer klinischen Verschlechterung bis hin zum Tode gerechnet werden. Bei einer Behandlung mit Bevacizumab bestehe zumindest eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf, da ein Ansprechen des Tumors auf eine Therapie auch beim Rezidiv noch erwartet werden könne. In den USA sei die Avastintherapie als Rezidivbehandlung beim Glioblastom sogar zugelassen. Aus drei unabhängigen randomisierten Studien zum Einsatz von Bevacizumab beim Glioblastom folge, dass das progressionsfreie Überleben (PFS - progression-free survival) signifikant verlängert sei: die RTOG0825-Studie (Gilbert et al, NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 7,3 auf 10,7 Monate, AVAglio-Studio (Chinot et al, NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 6,2 auf 10,6 Monate und GLARIUS-Studie (Herrlinger et al, JCO 2016) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 5,9 auf 9,7 Monate. Auch sei der klinische Zustand der Antragstellerin noch gut und sie verfüge über einen ausgeprägten Therapiewunsch. Geplant seien...

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