Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. Beschränkung des Mindest-GdB von 80 auf mobilitätsbezogene Beeinträchtigungen

 

Orientierungssatz

Eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 80 entspricht, liegt nicht vor, wenn der vergebene GdB von 80 nur teilweise mobilitätsbezogen ist. Dies ist der Fall, wenn eine unvollständige Rückenmarkschädigung mit Teillähmung beider Beine mit einem Einzel-GdB von maximal 60 zu bewerten ist und erst durch eine weitere hinzukommende Störung der Blasen- oder Mastdarmfunktion eine Anhebung des GdB auf bis zu 80 erfolgen kann.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 05.06.2020; Aktenzeichen B 9 SB 87/19 B)

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 30.11.2017 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG".

Der 1974 geborene Kläger leidet nach einer 2008 aufgetretenen akuten demyelinisierenden Enzephalomyelitis (ADEM) unklarer Ursache unter einem inkompletten Querschnittssyndrom, von welchem insbesondere die unteren Extremitäten betroffen sind. Hinzu treten Mastdarm- sowie Harnblasenentleerungsstörungen und eine erektile Dysfunktion.

Mit Bescheid vom 17.03.2015 entschied die Beklagte auf den Antrag des Klägers vom 29.10.2014, den GdB zu erhöhen und zusätzlich die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" festzustellen, dass der GdB weiterhin 70 betrage und weiterhin die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "B" und "G", nicht jedoch des Merkzeichens "aG" vorlägen. Die Prüfung des Antrags und der beigezogenen ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass in den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 16.10.2013 zugrunde gelegen hätten, keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Nach wie vor lägen Rückenmarkschäden mit funktionellen Harnblasen- und Darmstörungen sowie Funktionsstörungen der unteren Extremitäten und der Potenz vor. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Kommunale Sozialverband Sachsen mit Widerspruchsbescheid vom 24.08.2015 zurück.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Dr. Z., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, berichtete am 13.07.2016, die Gehstrecke betrage ca. 200 m. Die Gehgeschwindigkeit sei gegenüber gesunden Menschen auf 30 % reduziert. Bei längeren Strecken werde ein Rollstuhl erforderlich. Dr. Y., Fachärztin für Innere Medizin, berichtete am 27.07.2016, es bestehe ein hinkender Gang, der bei größerer Distanz zu starken Schmerzen und Versagen des linken Beines führe. Nach 100 m Wegstrecke, die der Patient langsam mit Gehstock laufen könne, blockiere das linke Bein und er müsse sich setzen. Es bestehe auch Sturzgefahr, wenn nach 100 m keine Sitzmöglichkeit vorhanden sei. Der Kläger sei 2014 in sechs Minuten 180 m gelaufen, ein gesunder Mensch benötige dafür 90 Sekunden. Zurzeit benötige der Kläger für 100 m sechs Minuten. Die Schmerzen, die beim Gehen aufträten, seien brennend und ziehend und so stark, dass er nicht mehr weitergehen könne. Er benutze einen Gehstock, um das linke Bein zu entlasten, für größere Distanzen sei ein Rollstuhl erforderlich. Aus dem beigefügten Entlassungsbericht der Rehaklinik X., in der sich der Kläger vom 05.06. bis 10.07.2014 aufhielt, gehen die entsprechenden Daten hervor, sowie die Einschätzung, wenn die Gehstrecke auf maximal 200 m beschränkt bleibe, sei der Gang deutlich flüssiger und für kurze Entfernungen auch ohne Handstock sicher.

Mit Schreiben vom 13.09.2016 erklärte sich die Beklagte bereit, mit Wirkung ab 03.11.2014 festzustellen, dass eine Behinderung mit einem GdB von 80 vorliege, hinsichtlich des Merkzeichens "aG" blieb die Beklagte bei ihrer ablehnenden Rechtsauffassung. Bei der Annahme eines Teil-GdBs von 70 für die unteren Extremitäten mit Vergabe der Merkzeichen "G" und "B" und unter Berücksichtigung der Harnblasenentleerungsstörungen stärkeren Grades sowie der Mastdarm- und Erektionsstörungen könne aus sozialmedizinischer Sicht vorgeschlagen werden, den Begutachtungsspielraum auszuschöpfen und einen GdB von 80 ab Antragstellung zu vergeben. Hinsichtlich des Merkzeichens "aG" seien die Voraussetzungen nach wie vor nicht erfüllt. Das Sozialgericht hat aus dem Verfahren S 39 VE 16/11 das neurologische Gutachten von Prof. Dr. W., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 20.11.2015 beigezogen. Bei der Anamnese anlässlich der Begutachtung gab der Kläger an, nunmehr nur noch 100 m am Stock laufen zu können. Zur Blasenentleerung sei keine Katheterisierung mehr notwendig. Die Sexualfunktion sei weiterhin eingeschränkt.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten erstellen lassen von Prof. Dr. V. vom 24.03.2017. Die Querschnittssymptomatik mit Teillähmung beider Beine ab Brust bewertete Prof. Dr. V. mit einem G...

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