Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Voraussetzungen des § 192 Abs. 4 SGG: § 192 Abs. 4 SGG setzt im Verwaltungsverfahren unterlassene erkennbare und notwendige Ermittlungen voraus. Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens, d. h. des Erlasses des Widerspruchsbescheides, müssen die später vom Gericht durchgeführten Ermittlungen notwendig, d. h. entsprechend der Amtsermittlungspflicht der Verwaltung unverzichtbar gewesen sein. Erkennbar waren die Ermittlungen nur dann, wenn sich der Behörde ihre Notwendigkeit, ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung bzw. - mangels einer solchen - von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste.

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 16.09.2010 wird zurückgewiesen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Kosten des auf Veranlassung des Sozialgerichts Dresden (SG) von Priv.-Doz. Dr. P. eingeholten Gutachtens zu tragen hat. Im Hauptsacheverfahren stritten die Beteiligten über einen Anspruch auf Heilbehandlung wegen des Ereignisses vom 04.08.2009.

Der 1964 geborene Kläger verspürte am 04.08.2009 beim gemeinsam mit zwei Kollegen erfolgten Anheben eines ca. 100 kg schweren Lkw-Reifens im Rahmen der versicherten Tätigkeit ein einmaliges Zucken im rechten Arm mit stechendem Schmerz. Unmittelbar danach suchte er den Durchgangsarzt Dr. E. auf, der eine tastbare Lücke des rechten Oberarms sowie Schmerzen bei Supination gegen Widerstand erhob und eine Ruptur der Bizepssehne diagnostizierte. Die Frage “Sprechen Hergang und Befund gegen die Annahme eines Arbeitsunfalls?„ verneinte er.

Mit Schreiben vom 10.08.2009 teilte die Beklagte dem Durchgangsarzt mit, der Kläger habe keinen unfallbedingten Gesundheitsschaden erlitten. Ein Arbeitsunfall habe daher nicht vorgelegen. Sie forderte ihn auf, die Heilbehandlung zu Lasten der Beklagten abzubrechen.

Nach Beiziehung von Auskünften der Krankenversicherung des Klägers lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 06.10.2009 die Gewährung von Heilbehandlungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen des Ereignisses vom 04.08.2009 ab. Das Anheben des Lkw-Reifens sei nicht geeignet, den aufgetretenen Riss der langen Bizepssehne des rechten Arms zu verursachen. Auf den Widerspruch des Klägers fertigte ein Mitarbeiter der Beklagten am 23.11.2009 folgenden Vermerk: “Dieser Hergang ist nach der gutachterlichen Literatur, z.B. Schönberger-Mehrtens-Valentin, 7. Auflage, nicht geeignet, die körpernahe Bizepssehne zu ruptieren.„ Die Beklagte wies auf dieser Grundlage den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 03.12.2009 zurück.

Sein Begehren hat der Kläger mit der am 04.01.2010 zum SG erhobenen Klage weiter verfolgt. Auf Veranlassung des SG hat der Chirurg Priv.-Doz. Dr. P. am 12.07.2010 ein Gutachten nach Untersuchung des Klägers gefertigt. Am 04.08.2009 habe der Kläger eine Ruptur der langen Bizepssehne rechts erlitten. Die arbeitsbedingte Verrichtung sei jedoch nicht die wesentliche Ursache für die Zerreißung gewesen. Allein wesentliche Ursache seien vielmehr die degenerativen Veränderungen an der Sehne gewesen. Daraufhin hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13.09.2010 die Klage zurückgenommen.

Das SG hat der Beklagten mit Beschluss vom 16.09.2010 die Kosten des von Priv.-Doz. Dr. P. eingeholten Gutachtens auferlegt. Nach § 192 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) könne das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht würden, dass die Beklagte erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen habe, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Die Entscheidung liege im Ermessen des Gerichts, wobei stets die Umstände des Einzelfalls maßgebend seien.

Die Prüfung der Umstände habe vorliegend ergeben, dass die Beklagte erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen habe. Für die Beurteilung, ob der Bizepssehnenriss durch die versicherte Tätigkeit wesentlich (mit)verursacht wurde, reiche der vor Erlass des Widerspruchsbescheides gefertigte Vermerk eines Mitarbeiters der Beklagten nicht aus. Vielmehr sei es erforderlich, eine medizinische Begutachtung zur Klärung des Zusammenhangs zwischen den durch die Operation gesicherten Befunden und dem Ereignis zu veranlassen. Dass der im gerichtlichen Verfahren gehörte medizinische Sachverständige den Riss der Bizepssehne allein wesentlich auf eine degenerative Schadensanlage zurückführe, ändere hieran nichts.

Gegen den am 17.09.2010 vom SG abgesandten Beschluss hat die Beklagte am 06.10.2010 beim SG Beschwerde eingelegt, die am 13.10.2010 beim Sächsischen Landessozialgericht eingegangen ist. Im Durchgangsarztbericht vom 04.08.2009 sei der Unfallhergang folgendermaßen beschrieben: “Beim Verladen von Reifen auf einen Lkw war ein plötzlicher Schmerz, wie ein Riss im re. Arm, Geräusch wie ein Knall„. Schon aufgrund dieser Hergangsschilderung habe die Beklagte mit S...

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