Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. drittstaatsangehöriger Elternteil und minderjähriges Kind mit Unionsbürgerschaft. Fiktionsbescheinigung. Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs des Kindes. Aufenthaltsrecht sui generis. faktischer Zwang zum Verlassen der EU. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Gleichbehandlungsgebot nach Art 1 EuFürsAbk. erlaubter Aufenthalt. Leistungsansprüche nach dem AsylbLG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Aus einer Fiktionsbescheinigung, die auf Grundlage des § 11 Abs 4 S 1 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) iVm § 81 Abs 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) ausgestellt wurde, folgt kein Aufenthaltsrecht.

2. Das Kind eines drittstaatsangehörigen Elternteils kann diesem nur dann ein Aufenthaltsrecht vermitteln, wenn es selbst ein Aufenthaltsrecht hat. Der Besuch einer allgemeinbildenden Schule kann nur dann ein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 begründen, wenn ein Elternteil die Unionsbürgerschaft hat.

3. Ein drittstaatsangehöriger Ausländer kann sich nur dann auf ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht "sui generis" (eigener Art) berufen, wenn sein familienangehöriges Kind als Unionsbürger faktisch gezwungen wäre, ihm bei der Ausreise aus dem Unionsgebiet zu folgen und sich in das außereuropäische Ausland zu begeben (hier verneint).

4. Leistungen aus dem Gleichbehandlungsanspruch nach Art 1 EFA (juris: EuFürsAbk) kommen nur dann in Betracht, wenn ein erlaubter Aufenthalt besteht.

5. Sofern der drittstaatsangehörige Elternteil mangels Aufenthaltsrechts vollziehbar ausreisepflichtig ist, kommen für ihn Leistungen nach § 1 Abs 1 Nr 5 AsylbLG und für sein Kind mit Unionbürgerschaft nach § 1 Abs 1 Nr 6 AsylbLG in Betracht, auch wenn das Kind noch nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 26. September 2023 abgeändert. Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig bzw. vorbehaltlich einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII für den Zeitraum vom 16. August 2023 bis 31. Januar 2024 zu erbringen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Beigeladene hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Anträge auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren und auf Beiordnung des Prozessbevollmächtigten werden abgelehnt.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerinnen begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ab dem Monat August 2023.

Die am ... 1979 geborene Antragstellerin zu 1) ist kubanische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 2), welche die italienische Staatbürgerschaft hat, ist ihre am ... 2010 in Italien geborene Tochter.

Nach ihren Angaben lebte die Antragstellerin zu 1) seit dem 8. Dezember 1999 in Italien. Laut einer Bescheinigung des italienischen Innenministeriums über eine Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer vom 29. Oktober 2003 war ihr keine Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Als Gründe für den Aufenthalt wurden familiäre Motive genannt. Der Lebensunterhalt werde durch Arbeit gesichert. Sie lebe mit ihrem Sohn L. M. (geboren am 12. Januar 1995) zusammen. Gemäß einem am 18. April 2019 ausgestellten italienischen Identitätsnachweis wohnte sie zuletzt in Ravenna.

Am 15. Mai 2021 meldete die Antragstellerin zu 1) ihre Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. In einem Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis vom 17. November 2022 gab sie hingegen an, am 24. Mai 2021 ins Bundesgebiet eingereist zu sein.

Nach einem Vermerk der Beigeladenen vom 28. September 2021 sei die Antragstellerin zu 1) zusammen mit ihrem rumänischen Lebenspartner unter falschen Versprechungen nach Deutschland gekommen. Die gemeinsam genutzte Wohnung in der F.straße 3 in H. (Saale) werde am 30. September 2021 zwangsgeräumt. Nachdem die Antragstellerin zu 1) einen Arbeitsvertrag vorlegen konnte, sei ihr eine Aufenthaltskarte mit einer Gültigkeit bis zum 15. September 2022 ausgestellt worden.

Die entsprechend erteilte Aufenthaltskarte weist sie als EU-Familienangehörige „Art. 10 der Richtlinie 2004/38/EG“ mit der Anmerkung „§ 5 Abs. 1 FreizügG/EU“ aus. Sie gelte als Passersatz. Des Weiteren war darauf vermerkt, dass ihr die Erwerbstätigkeit gestattet sei.

Die Beigeladene erteilte der Antragstellerin zu 1) mit Schreiben vom 16. September 2021 eine Bescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) als Familienangehörige einer Unionsbürgerin über das Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Die Antragstellerin zu 1) sei berechtigt, im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eine Arbeit aufzunehmen.

Die Familienkasse entsprach dem am 24. November 2021 gestellten Antrag der Antragstellerin zu 1) auf Kindergeld m...

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