Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Aufenthaltskarte für drittstaatsangehörige Familienangehörige. Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils eines Unionsbürgerkindes. Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG. sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. keine rückwirkende Änderung der im Wege einer einstweiligen Anordnung ausgesprochenen Leistungsverpflichtung nach Erfüllung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der drittstaatsangehörige Elternteil eines Unionsbürgerkindes kann bei Fehlen eines Aufenthaltsrechts leistungsberechtigt nach § 1 Abs 1 Nr 5 AsylbLG sein. Für das Kind selbst kann die akzessorische Leistungsberechtigung nach § 1 Abs 1 Nr 6 AsylbLG greifen.

2. Das Jobcenter kann im Falle der Leistungspflicht eines vorrangig zuständigen anderen Trägers eine rückwirkende Änderung der im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesprochenen Leistungsverpflichtung im Beschwerdeverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, wenn es diese bereits erfüllt hat.

 

Orientierungssatz

1. Eine auf Grundlage von § 5 Abs 1 FreizügG/EU 2004 erteilte Aufenthaltskarte hat lediglich deklaratorische Bedeutung. Es handelt sich nicht um einen feststellenden Verwaltungsakt, sodass die Aufenthaltskarte selbst kein Aufenthaltsrecht begründet (vgl BVerwG vom 23.9.2020 - 1 C 27/19 = NVwZ 2021, 164 = juris RdNr 14).

2. Beruft sich ein Drittstaatsangehöriger auf ein aus der Freizügigkeitsgarantie für Unionsbürger nach Art 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht zur Führung eines normalen Familienlebens in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, muss die Referenzperson, von der er das Recht abgeleitet, im Aufnahmemitgliedstaat aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt sein; ein lediglich vom anderen Elternteil abgeleitetes Freizügigkeitsrecht eines Unionsbürgerkindes reicht hierfür nicht (vgl BVerwG vom 23.9.2020 - 1 C 27/19 aaO = juris RdNr 27).

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juni 2022 insoweit aufgehoben, als der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden ist, den Antragstellern für die Monate Juli bis Oktober 2022 Leistungen nach dem SGB II im Umfang von mehr als 200,- € monatlich zu gewähren. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird insoweit abgelehnt.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner und der Beigeladene haben den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen in vollem Umfang zu erstatten, wobei jeder von ihnen jeweils die Hälfte dieser Kosten zu tragen hat.

 

Gründe

I.

Im Streit steht die Gewährung von existenzsichernden Leistungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Die im Jahr 2000 geborene Antragstellerin zu 1) ist georgische Staatsangehörige. Sie ist ledig. Am 30. März 2017 reiste sie aus Georgien in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie verfügte zu diesem Zeitpunkt über ein bis zum 12. Mai 2017 gültiges Schengen-Visum.

Am 6. Oktober 2017 erschienen die Antragstellerin zu 1) und ihr damaliger Lebensgefährte - der 1991 geborene griechische Staatsbürger L T - vor einem Berliner Notar. Sie wohnten zu diesem Zeitpunkt in einer gemeinsamen Wohnung unter der Anschrift A-S-latz in B L. Der damalige Lebensgefährte der Antragstellerin zu 1) erklärte vor dem Notar, dass er die Vaterschaft für den - seinerzeit noch nicht geborenen - Antragsteller zu 2) anerkenne. Darüber hinaus gaben die Antragstellerin zu 1) und ihr damaliger Lebensgefährte (im Folgenden auch als Kindsvater oder Vater bezeichnet) eine gemeinsame Sorgerechtserklärung für das Kind ab.

Im Januar 2018 erfolgte erstmals die Meldung der Antragstellerin zu 1) unter der Anschrift -P bei der zuständigen Meldebehörde.

Ebenfalls im Januar 2018 erteilte die Ausländerbehörde der Antragstellerin zu 1) eine Aussetzung der Abschiebung (Duldung) gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), welche bis Mitte Juli 2018 gültig war.

Im April 2018 brachte die Antragstellerin zu 1) in Berlin ihren Sohn, den Antragsteller zu 2), zur Welt. Dieser ist Grieche.

Auf einen spätestens im Juni 2018 gestellten Antrag stellte die Ausländerbehörde der Antragstellerin zu 1) eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern nach § 5 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) aus. Diese ist gültig bis Dezember 2023.

Von Anfang 2020 bis November 2021 ging die Antragstellerin zu 1) einer geringfügigen Beschäftigung als Reinigungskraft nach.

Nachdem es zu häuslicher Gewalt gekommen war, zogen die Antragsteller im Oktober 2021 aus der bis dahin gemeinsam mit dem Kindsvater bewohnten Wohnung (--P ) aus und bezogen vorübergehend eine Zufluchtswohnung im Zuständigkeitsbereich des Jobcenters Berlin Mitte. Das Jobcenter Berlin Mitte gewährte ihnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Ende März 2022 bezogen die Antragsteller die (aus d...

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